Ginster (German Edition)
Vokabeln in einer Schulgrammatik, fiel ihm ein, so stellen sie sich zu lehrreichen Sätzen zusammen. Die Tochter des Generals plaudert mit einem würdigen Alten; jene Griechin trägt ein weißes Kleid mit leichten hellgrünen Bändern, ihre Base ist eine schöne und traurige Frau; diese Herren kommen aus dem Garten des Präsidenten: aufs Geratewohl einige Sätze buchstabiert, die sich im Augenblick gebildet hatten. Wenn es zu stark flimmerte, verschwammen die Fetzen zu einer regellosen Leuchtsprache, die er nicht zu entziffern vermochte; oder die Geräusche schwollen an, und ihr Tosen fegte wie eine Wolke über die ganze Grammatik. Schön waren die paar Sekunden vor dem endgültigen Stillstand des Rings. Die Glanzlichter des Kugelkäfigs sprangen in das immer zögernder kreisende Blechband zurück, Luftstücke von jenseits der Hülle brachen durch, und zuletzt eröffnete sich dem Vögelchen die geklärte Umgebung. Ginster fuhr auf: die Dame, die eben vorüberging – er erinnerte sich ihrer – –, sie mußte es sein. Rasch aus den Tischchen heraus.
»Frau van C.? …«
Sie war es.
»Sie sind es«, sagte sie, »vor einer Stunde bin ich aus Nizza angekommen.« Etwas erschrocken.
Ginster wunderte sich, daß er sie gleich erkannt hatte, woher stammte die Ähnlichkeit. Ein schwarzgekräuselter Mann streifte ihn, groß, fett, vielleicht aus Südamerika. Ihre Stimme klang abgespielt. Die Urwälder waren wirklich vorhanden.
»Ich wollte nach Nizza«, erwiderte er, »verschiebe aber meine Abreise jeden Tag. Eine knappe Woche bin ich bereits in Marseille.«
Seit Professor Caspari hatte er Frau van C. nicht mehr gesehen. Damals – – die Person mit den Vögelchen trat von neuem an ihn heran, er hatte doch seines. »Was hält Sie hier?« fragte Frau van C., »ich kenne Marseille kaum.« Sie war den Rest des Tages frei, verlangte nach einem ruhigen Ort. Er nahm ein Taxi zur Corniche. Badeanstalten, Villen über ihnen, am Meer entlang, Häuschen, Steine, weiß, blau. Ich könnte das Blau – erwog er für sich, schwieg aber lieber. In einem Gartencafé nahe bei der Prado-Promenade setzten sie sich unter einen riesigen Sonnenschirm an den Strand. Das Vögelchen stach in der Tasche.
»Durch einen glücklichen Zufall habe ich vor langem erfahren«, sagte Frau van C., »daß Sie von dem Morden verschont geblieben sind … Jetzt liegt der Krieg schon über fünf Jahre zurück –.«
Sie schien den Austausch von Erinnerungen zu wünschen, es war ihm aber für die Vergangenheit zu heiß. Er hatte auch sein Gedächtnis verloren. Der Florentiner Hut, das helle Kleid – obwohl sie ungeachtet des noch immer rötlichen Haares nicht bunt war, wirkte sie wie ein alter Papagei. Gelb, grün, violett; das Gefieder zerrupft. Der Glanz fehlte, in dem sie, eine große Dame, an jenem Abend geschwebt hatte. Die Wellen schlugen in regelmäßigen Abständen wider das Ufer.
»So ruckweise wird die Menge über die Canebière gestoßen«, sagte Ginster. Er plapperte widerstandslos die Stadt aus, die in ihm nachhallte. »Sie ist ein einziger Bahnhof. Gestern habe ich an der Joliette der Ausreise eines Dampfers beigewohnt, der nach Tunis ging. Ich mochte nicht mit. Denn ist man erst in Tunis, so gerät man wieder in die Landschaft, in Gebräuche, Feste, Familien hinein. Am Schiffssteg dagegen befand ich mich in einer Ferne, zu der kein Schiff hinträgt. Ein Mann verabschiedete sich von einer Frau, die nicht einmal weinte – er war nicht mehr zu Hause, er war noch nicht unterwegs, er war unerreichbar weit fort. Für einen Augenblick wenigstens aus jedem Zusammenhang gerissen; wie neu. Ich habe ihn nicht eigentlich beobachtet, ich habe überhaupt nichts beobachtet, sondern bin selbst entglitten, als führe ich ab. Es handelt sich immer nur um den Augenblick, in dem sich ein winziges Loch öffnet, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Gegenüber den Hafenbassins erstrecken sich die Depots, gleichgültige, gelbe Speichergebäude, die niemand bemerkt. Zwischen ihnen und den Kais schleppen die Hafenarbeiter Waren hin und her. Mich ziehen die Speicher an, sie sind am hellichten Tag so verborgen, und nichts bleibt in ihnen. Sämtliche Arbeiter tragen übrigens blaue Blusen. Früh hängen sie in dicken blauen Klumpen an den Trambahnen, die zum Hafen fahren. Das Blau spritzt überall hin. Die Firmenschilder werden blau angestrichen, und die vielen blau umränderten Geschäftchen sind wie Kajüten, die schaukeln. Es gibt auch einen offenen
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