Ginster (German Edition)
aber nun, da er frei war, eilte es gar nicht so sehr. Statt gleich die Abreise zu betreiben, malte er sich lieber einige Möglichkeiten aus, ohne sich um die nächste Zukunft zu kümmern. Nur nicht fest an einem Ort bleiben und in einem Zweizimmerberuf wohnen. Manchmal wünschte er sich, ein Abenteurer mit geballten Fäusten zu sein und Peter zu heißen. Am schönsten war es, mit den Menschen zu reden. Gegen Ende der Schulzeit oder auch später hatte er einmal eine Geschichte geschrieben, in der ein Jüngling umherwanderte und den Menschen ihre Seelen zurückbrachte, die ihnen abhanden gekommen waren. Soviel er sich erinnerte, hatte er die Seelen als Flämmchen geschildert. Ebenso unreif waren die Knabenträume von seiner baldigen Berühmtheit gewesen, er mußte sie ducken. Immerhin mochte sich leicht noch etwas Unvorhergesehenes mit ihm ereignen. Die Denkschrift weiter hochzuführen, gebrach es ihm unter solchen Umständen an der nötigen Lust; schließlich mauerte man sich in einer Revolution nicht gerade freiwillig ein. Meistens spähte er auf der Straße nach Gruppen aus, von denen er Zwischenfälle erwartete. Sie durften auch einen geringeren Umfang haben, seine Ansprüche waren bescheiden geworden. An einem Nachmittag hatte er Glück. Aus sämtlichen Holzgefächern strömten Gruppen zum Rathausplatz, der seit dem Matrosen ein Gewohnheitsrecht auf Protestversammlungen hatte. In den Leuten schien sich sogar eine besonders heftige Volkswut angespeichert zu haben, denn sie zertraten die Rasenbeete, die das Denkmal des Historikers umgaben. Jetzt geht die richtige Revolution los, frohlockte Ginster und zertrat in Ermanglung des Rasens das Pflaster. Es war holprig, ab und zu fehlte ein Stein. »Die Kuh heraus«, brüllte das Volk. Außer der Kuh verlangte es auch den Oberbürgermeister und den Stadtbaurat zu sprechen. Vielleicht würden sie gelyncht, Ginsters linker Fuß steckte in einem Pflasterloch. Wenn der Historiker noch am Leben gewesen wäre, hätte er von seinem erhöhten Standort aus die Revolution sofort beschreiben können. Der Stadtsohn mit Denkmalsaugen. Gewöhnlich starben allerdings die Historiker weg und ließen die Geschichte in Denkmalsform übrig. Aus dem Volksaufstand ging hervor, daß die Kuh eine Geheimkuh war, die den Familien des Stadtbaurats und des Oberbürgermeisters gehörte. Sie schmierten sich von ihr die Brote und tranken aus ihr. Der Fuß war wieder frei. Hinter einer Scheibe des Stadtbauamts horchte Stadtsekretär Hermann in seiner Gehrockzelle, die er sorgfältig zugeriegelt hatte. War erst alles vorbei, so schloß er den Gehrock auf und machte von seinen Beobachtungen Gebrauch. Mit einem Mal brach das Toben ab, und auf dem Rücken eines friedfertigen Gemurmels erhob sich viel zu winzig ein Männchen zwischen zwei steinernen Rittern. Ein Magistratsbeamter. Er erklärte vom Rathausbalkon herunter, daß die Milchkuh fortan öffentlich sei und der Allgemeinheit zu gleichen Teilen ausgehändigt werden solle. Der Oberbürgermeister und der Stadtbaurat befänden sich in einer wichtigen Sitzung. Die Menge klatschte und verlief sich allmählich. Enttäuscht suchte Ginster sie aufzuhalten. »Man könnte doch auch gleich die Ritter in Stücke sprengen«, redete er einem besser gekleideten Herrn zu. »Ja, ja«, erwiderte der Herr, »diese Prunkstücke sollten schon längst ins Museum.« Alle trugen ihre Kuhstücke heim. Inmitten eines Balkengewimmels stieß Ginster auf den Redakteur, der sich die Hände rieb.
»Eine großartige Veranstaltung«, sagte er triumphierend. Mit seinem Spitzbärtchen glich er einem Papiermesser.
Ginster wollte es zücken: »Wie wäre es, wenn Sie Ihren großen Schlag gegen den Stadtbaurat führten. Der Zeitpunkt zum Schlagen ist günstig …« Er lieferte ihm die Denkschrift aus, aber das Papiermesser weigerte sich, sie aufzuschneiden.
»Unmöglich, mein Lieber, gerade eben unmöglich. Wir haben viel erreicht, man darf die Dinge nicht übertreiben … Eine großartige Versammlung.«
Wie auf Damenschreibtischen; in einem Futteral. Die geplante Nationalversammlung wurde wahrscheinlich der Kühe wegen einberufen. Ginster sah schon die künftigen Nationalkühe im Schmuck der Landesfarben einhertraben, während ihre bisherigen Eigentümer genau so wie früher Sitzungen abhielten. Eine Karte der Mutter war eingetroffen. Sie schrieb, daß Ginster seine Stellung kündigen und zurückkommen möchte. »Es ist doch schrecklich, wie mit uns umgesprungen wird. Tante meint,
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