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Lenas Flucht

Lenas Flucht

Titel: Lenas Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Erstes Kapitel
    Sie fiel in ein bodenloses schwarzes Loch. In den Ohren rauschte es, der Körper verlor jeden Halt. Dieses widerliche Gefühl der Schwerelosigkeit kam ihr bekannt vor. So war es gewesen, wenn sie als Kind zu lange geschaukelt hatte und danach keinen festen Boden unter den Füßen fand. Der Horizont schwankte und wollte nicht wieder in die Waagerechte kommen …
    Die bleischweren Lider ließen sich nur mit Mühe öffnen. Gleißendes Licht stach in die Augen. Sie suchte zu begreifen, wo sie war, aber es gelang ihr nicht. Dann drangen durch das Dröhnen im Kopf Stimmen an ihr Ohr.
    Zwei junge Frauen sprachen miteinander:
    »Hör mal, wenn sie künstliche Wehen bekommen soll, warum hat man sie dann so mit Promedol vollgepumpt? Die wacht doch bis morgen früh nicht auf.«
    »Wir warten noch ein bißchen, dann wecken wir sie.«
    »Was ist denn mit ihr?«
    »Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist das Kleine tot oder behindert. Was interessiert’s dich?«
    »Einfach so … Sie tut mir leid. Oxana, vielleicht hör’ ich mal die Frucht ab?«
    »Blödsinn, da ist nichts zu hören.«
    »Nur so, zum Üben.«
    »Na meinetwegen, wenn du unbedingt willst.«
    Sie traten an das Bett heran. Die Frau lag regungslos mit geschlossenen Augen da. Sie spürte, wie sie sie aufdeckten. Dann wurde es ganz still. Ein Stethoskop glitt über ihren Bauch.
    »Oxana, das Kind lebt! Der Herzschlag ist normal –hundertzwanzig! Vielleicht braucht sie gar keine künstlichen Wehen! Die ist doch höchstens fünfunddreißig.«
    »Das ist es ja – fünfunddreißig. Eine alte Erstgebärende. Die kriegen behinderte Kinder.«
    Oxana klopfte der Schwangeren leicht auf die Wangen.
    »Aufwachen!«
    Keine Reaktion.
    »Oxana, komm, wir gehen erst mal Tee trinken. Laß sie doch noch ein bißchen schlafen.«
    Sie deckten sie wieder zu, zogen den Wandschirm vor das Bett und verließen das Zimmer.
    »Walja, steck deine Nase nicht in Sachen, die dich nichts angehen. Du reißt hier dein Praktikum runter und tschüß! Aber ich muß bleiben. So viel wie hier krieg ich als Schwester nirgends.«
     
    Lena Poljanskaja erschrak so sehr, daß ihre Übelkeit sofort verflog. Als die Schritte der Schwestern verklungen waren, sprang sie aus dem Bett und schaute hinter dem Wandschirm hervor.
    Das war kein Krankenzimmer, sondern eine Art Büro – ein Glasschrank mit Instrumenten und Arzneimitteln, eine ledergepolsterte Bank, ein Schreibtisch. Darauf erblickte sie ihre Handtasche. Über der Stuhllehne hing ein grüner Operationskittel. Lena griff nach Handtasche und Kittel und lugte auf den Gang hinaus. Der war leer. Gegenüber eine halb geöffnete Tür mit einem Schild, auf dem ein Männlein über eine Treppe lief: der Notausgang. Lena eilte, so schnell sie konnte, die Stufen hinunter.
    Um sie war es dunkel und still. Ihre nackten Füße spürten die Kälte nicht. Das Herz schlug, als wollte es zerspringen.
    Nach mehreren Treppenabsätzen mußte Lena innehalten, um Luft zu schöpfen. Wo renn’ ich eigentlich hin und warum? schoß es ihr durch den Kopf. In diesem Aufzug auf die Straße. Und was dann?
    Schon etwas ruhiger, ging sie noch einige Stufen. Als ihr Blick nach unten fiel, konnte sie in der Dunkelheit eine schwach schimmernde Metalltür erkennen. Das war sicher der Keller.
     
    Als die Krankenschwester Oxana Staschuk und die Praktikantin Walja Schtscherbakowa in das Zimmer zurückkehrten, war das Bett leer.
    »Okay«, meinte Oxana, »jetzt ist sie selber aufgewacht. Wird wohl auf die Toilette gegangen sein. Wenn sie wieder da ist, fangen wir an.«
    Ein hochgewachsener Mann in weißem Kittel und Gazemaske kam herein.
    »Na, ihr Hübschen, wie geht’s unserer Patientin?« fragte er gutgelaunt.
    »Entschuldigen Sie, Boris Wadimowitsch«, platzte Walja heraus und errötete heftig, »ich habe die Frucht abgehört. Das Herz schlägt normal, und das Kind bewegt sich. Vielleicht untersuchen Sie die Patientin noch einmal und entscheiden dann, ob wir anfangen sollen oder nicht.«
    Der Stationsarzt Boris Wadimowitsch Simakow maß die kleine, rundliche Praktikantin mit einem Blick, vor dem jede andere im Boden versunken wäre. Aber Walja ließ sich nicht beirren.
    »Ich verstehe, davon haben Sie nichts, aber man kann doch nicht …«
    Nun platzte dem Arzt der Kragen.
    »Du grüne Rotznase, wovon redest du? Was willst du eigentlich hier? Uns sagen, was wir zu tun haben?! Dir werd’ ich zeigen, was ein Praktikum ist! Oxana!« wandte er sich scharf an die Schwester.

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