GK0160 - Die Totenkopf-Gang
Die Nacht hatte einen heißen Tag abgelöst. Über die dunklen Fluten der Themse strichen hauchdünne Nebelschleier. Das Wasser gurgelte und schmatzte. Klatschend brachen sich die Wellen an der hohen, mit Algen bedeckten Kaimauer.
Wie eine große graue Decke wirkte der Himmel. Nicht ein Stern funkelte. Es war drückend schwül, und die Luft war kaum zu atmen.
Kein Windhauch brachte Kühlung, und die Themse stank wie eine Kloake.
Tief flogen die Schwalben, schnappten mit ihren Schnäbeln nach Mücken und Fliegen.
Weiter östlich quietschten die Verladekräne. Dort wurden auch in der Nacht Schiffe be- und entladen. Starke gleißende Scheinwerfer vertrieben die Dunkelheit. Doch die Lichtglocke reichte längst nicht aus, um die zahlreichen stillgelegten Piers auch noch zu erleuchten.
Hier ballte sich die Dunkelheit, schluckte die Lagerhäuser und die zerfallenen Holzbauten. Ratten hatten ihr Paradies gefunden. Fiepend und pfeifend wieselten die fetten, ekligen Tiere über den mit Schlaglöchern übersäten Boden.
Dieser Teil des Londoner Hafens war schon lange dem Verfall preisgegeben. Die Stadt hatte die einzelnen Grundstücke aufgekauft, wollte ein Handelszentrum errichten, doch die schwache Finanzlage hatte dieses Vorhaben erst einmal verzögert.
Der Wagen näherte sich aus Richtung Osten. Es war ein dunkler Mercedes, und die vier Männer, die sich in dem Gefährt verteilt hatten, waren alles andere als Chorknaben.
Sie waren Gangster, gehörten zur Elite der Londoner Unterwelt.
Wie ein Pascha hockte Henry Graf im Fond des Mercedes und starrte durch die schußsichere Scheibe. Graf war eine Größe auf dem Rauschgiftmarkt, er kontrollierte den gesamten Londoner Süden und regierte mit eiserner Faust.
Dabei sah er aus wie ein Gentleman der alten Schule. Graues, leicht gewelltes Haar, das sich an der Stirn schon lichtete. Ein schmales, gebräuntes Gesicht, in dem hellblaue Augen funkelten. Außerdem zierte ein grauer Ziegenbart sein Kinn.
Henry Graf stammte aus Deutschland. Sein Vater war Deutscher gewesen, seine Mutter Engländerin. Die Eltern hatte es aber dann schon sehr bald nach London verschlagen, wo sie sich dann nach zwei Jahren getrennt hatten. Henry Graf war praktisch auf sich allein gestellt gewesen, und er hatte sich in seinen Kreisen durchgesetzt.
Jetzt, mit fünfundvierzig, hatte er es geschafft.
Graf blickte auf den breiten Rücken seines Leibwächters, der neben dem Fahrer saß. Unzählige Gedanken gingen dem Gangsterboß durch den Kopf. Er dachte an den unbekannten Anrufer, der ihn in die Hafengegend bestellt hatte. Zuerst hatte Graf die Anrufe einfach ignoriert, aber der Unbekannte hatte nicht locker gelassen, bis Graf einverstanden gewesen war.
Tagelang hatte er sich den Kopf zerbrochen, wer hinter diesen Anrufen stecken konnte. Am stärksten hatte er ja Jamie Tyler in Verdacht. Tyler – auch König von Soho genannt – war der zweite Rauschgiftfürst in London. Er hatte noch etwas mehr Macht als Henry Graf. Und das wurmte Graf. Irgendwann würde es zu einer Auseinandersetzung kommen, da war sich Graf ganz sicher. Ein Burgfrieden unter Gangstern hielt nie lange.
Der Mercedes fuhr jetzt langsamer. Immer wieder mußte der Fahrer allzu tiefen Schlaglöchern ausweichen. Er stieß dann jedesmal einen wüsten Fluch aus.
Der Mercedes besaß eine Klimaanlage, die bei diesen extremen Temperaturen eine Wohltat war. Nicht ein Tropfen Schweiß glitzerte auf den Stirnen der vier Männer.
Seufzend steckte sich Graf eine Zigarette zwischen die Lippen, Der Mann, der neben ihm saß, gab ihm Feuer. Graf bedankte sich nicht einmal mit einem Nicken. Für ihn war es selbstverständlich, daß seine Leute wie Marionetten reagierten.
»Wann sind wir denn da?« fragte er.
Der Fahrer hob die Schultern. »In wenigen Minuten, Boß. Es sind dann immer noch dreißig Minuten Zeit, bis zum vereinbarten Zeitpunkt.«
»Seht euch aber die Gegend vorher an«, sagte Henry Graf. »Ich möchte keine unliebsamen Überraschungen erleben.«
»Keine Angst, Boß, das geht schon in Ordnung.«
Henry Graf blies den würzigen Rauch durch die Nasenlöcher aus.
Immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem unbekannten Anrufer zurück. Was wollte dieser Kerl von ihm? Und weshalb hatte er ihn um Mitternacht in den verlassenen Hafen bestellt? Graf spürte, wie eine prickelnde Spannung von ihm Besitz ergriff. Er schielte auf seinen neben ihm sitzenden Leibwächter, der stur vor sich hinstarrte und auf den Knien eine
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