GK456 - Irrfahrt in die Zwischenwelt
jeden einzelnen Schluck.
Nachdem ich das Glas geleert hatte, fragte ich Roxane: »Können wir gehen?«
»Ich sehe nur noch mal nach Silver«, sagte die Hexe.
Während sie das Wohnzimmer verließ, nahm ich Vicky Bonney in die Arme und küßte sie auf die vollen roten Lippen.
»Sei vorsichtig, hörst du?« sagte sie leise.
»Sei unbesorgt, ich komme wieder.«
»Roxane sagte, es würde gefährlich werden.«
»Sie hätte das lieber für sich behalten sollen. Aber ich denke, ich habe in der Vergangenheit oft genug bewiesen, daß ich mich meiner Haut zu wehren weiß.«
Auch ich warf noch einen Blick auf Mr. Silver, und ich spürte einen unangenehmen Druck auf der Brust. Wenn es uns nicht gelang, das Heilkraut für ihn zu beschaffen, würde er an den Folgen des Wolfsbisses sterben, das stand für mich fest.
Ich holte meinen weißen Peugeot 504 TI aus der Garage. Vicky trat mit Roxane aus dem Haus.
»Paßt auf euch auf«, sagte meine blonde Freundin.
»Worauf du dich verlassen kannst«, gab ich zurück.
Roxane stieg zu mir in den Wagen. Wir winkten Vicky ein letztesmal, dann ging’s ab - einer ungewissen Zukunft entgegen.
***
Zumeist machten sie Enfield unsicher. Sie terrorisierten Kneipenbesitzer und -besucher, fielen über Frauen her, die allein unterwegs waren, schlugen Fensterscheiben ein und Tankstellenpächter nieder, wenn sie Geld brauchten. Sie waren eine Horde zügelloser Kerle, denen es Spaß machte, Angst und Schrecken zu verbreiten, zu zerstören und zu vernichten. Mit der größten Selbstverständlichkeit vergriffen sie sich am Eigentum anderer, und wer aufmuckte, den schlugen sie krankenhausreif.
Daß sie bisher noch niemanden umgebracht hatten, war wohl nur dem Glück der Betroffenen zuzuschreiben.
Ihr Boß hieß Joe Retzik.
Was er sagte, war für die anderen Gesetz. Er war ein Bursche der übelsten Sorte, fürchtete weder Tod noch Teufel. Er genoß es, stark zu sein, und ließ die Schwachen seine Stärke spüren.
Die schwarze Lederbekleidung war seine Uniform. Niemand kannte ihn anders. Er trug jahraus, jahrein dasselbe nietenbesetzte Zeug. Und seit drei Jahren fuhr er auf einer chromblitzenden Kawasaki vor den anderen Rockern her. Hochgezogener Lenker. Rückenlehne am Ende des Sattels. Ein heißer, dröhnender Feuerstuhl, natürlich frisiert. Die anderen Mitglieder der Rockerbande beneideten Joe Retzik um diesen heißen Ofen.
Da ihnen an diesem Freitag Enfield zu langweilig war, zogen sie einen Kreis und landeten in Waltham Abbey. Wie ein kriegerischer Barbarentrupp fielen sie über den Ort her, heulten wie die Indianer in den alten Fernsehfilmen, schwangen dickgliedrige Ketten und waren auf der Suche nach einem besonderen Nervenkitzel.
Die Leute verschwanden ängstlich von den Straßen.
Joe Retzik raste mit seiner Gruppe durch schmale Gassen. Sie schrien und johlten. Der Lärm der Motorräder dröhnte zwischen den Häusern. Ein schwerhöriger Mann, der sein Hörgerät abgeschaltet hatte und friedlich zum Fenster hinausschaute, hätte beinahe einen Schlag ins Gesicht gekriegt. Die Rocker rasten an dem Fenster vorbei. Der Mann zuckte erschrocken zurück, und die Stahlrute pfiff knapp an seiner Stirn vorbei.
Und weiter ging die wilde Jagd.
Die Rocker erreichten den Hauptplatz.
Der Kaufmann, ein dicker Mensch in weißer Schürze, beeilte sich, den Laden zu schließen.
Joe Retzik grinste breit, als er das sah. »Habt ihr Hunger, Jungs?«
»Jaaa!« schrien seine übermütigen Freunde.
»Habt ihr Durst!«
»Jaaa!«
»Dann kommt! Alles mir nach!« Retzik drehte am Gasgriff. Die Kawasaki bäumte sich wie ein wilder Mustang auf. Etwa zehn Yards weit fuhr Joe Retzik nur auf dem Hinterrad. Er raste auf den Kaufmannsladen zu. Seine Kumpane folgten ihm. Fred Heckart, der Kaufmann, drückte hastig die Tür zu, doch Retzik stoppte bereits seine Maschine vor dem Geschäft und schrie ärgerlich: »He! Nicht so hastig! Wir wollen noch was kaufen!«
»Tut mir leid, es ist schon geschlossen!« rief Heckart durch das Glas der Tür.
»Dann mach eben wieder auf, Mann.«
»Das kann ich nicht.«
»Und wieso nicht?«
»Weil es das Ladenschlußgesetz verbietet.«
»Pfeif auf das Gesetz, Mann. Laß uns rein!«
»Es tut mir wirklich leid…«
»Mir auch!« sagte Retzik und schlug mit der Faust das Glas ein. Da seine Fäuste in ledernen Stulpenhandschuhen steckten, verletzte er sich nicht. Er griff nach dem Schlüssel und drehte ihn herum. Fred Heckart wich bestürzt zurück.
»Aber - aber das
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