GLÄSERN (German Edition)
an den hohen Wänden zu begutachten. Während wir die Stufen zur Belle-Etage erklommen, fragte er mich ungeniert über die Gesichter aus, die uns von den Wänden aus zu beobachten schienen. Steinerne Fratzen von allzu alten Biestern und in Öl verewigte und idealisierte menschliche Köpfe.
Ich verstand kaum, was er schniefend von sich gab, da das Unwetter nun seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien und Donner regelrecht den Boden unter unseren Füßen erbeben ließ. Also gab ich ihm eine knappe Einführung in die Geschichte der ursprünglichen Familie von Waldeck – will sagen, des Grafen und dessen Tochter; ursprünglich aus den norddeutschen Landen, die sich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in das schottische Hochland zurückzogen. Das einzige, in Größe und Qualität eher bescheidene Portrait des Grafen Hektor von Waldeck, zeigte den seit nunmehr drei Wochen erkrankten Hausherren, der im hinterletzten Trakt des Hauses sein Dasein fristete.
»Meine Herrin, Lady Amaranth, stattet dem Herrn einmal täglich einen Besuch ab«, erklärte ich und versuchte, mich einfacher Worte zu bedienen. Der Lord schien mir nicht der Hellste zu sein und das war wohl auch der Grund, weshalb die Lady nach ihm geschickt hatte, denn es eilte ihm ein eher bauernschlauer Ruf voraus. Außerdem war er doch von recht beeindruckender Statur, beinahe brachial. Man teilte meinen gefiederten Spionen bei ihren Recherchen mit, dass es wohl sein persönlicher Sport sei, in regelmäßigen Abständen liebreizende Damen zu umwerben und zu ehelichen. Wie genau ihm das mit seinem … nun … fragwürdigen Charme gelang, und das sogar mehrmals, wird wohl immer ein Rätsel unserer Zeit bleiben. Dennoch, vielleicht konnte seine dunkle Erscheinung aus Weibersicht noch am ehesten als mysteriös – und daher als anziehend – angesehen werden. Und vielleicht konnte man ihn mit etwas zusammengekniffenen Weiberaugen auch als imposant bezeichnen. Dennoch, ich gebe zu, sein pechschwarzer Bart wäre gestutzt doch recht annehmbar – wenn auch völlig veraltet – zu drapieren und auch seine mächtigen Koteletten, die ihm weit ins Gesicht reichten, machten auf eine gruselige Art etwas her. Viel zu viele Spekulationen hatten ihm einst den Anschein des Ungreifbaren verliehen. Doch das Ende all dieser Geschichten um Lord Sandford war stets dasselbe: Es soll keine seiner Ehefrauen das Schloss jemals wieder verlassen haben, weder in gesellschaftlicher noch in geschiedener Hinsicht. Angeblich sollen sich genau hundert Zimmer dort befinden, von denen alle bis zur Deckenleuchte voll von Schätzen und Raritäten sein sollen. Von seinen unzähligen Reisen mitgebracht, sagt man. Woher das gemeine Volk das wissen will? Nun, so etwas ist doch immer das Geheimnis der Klatschtüchtigen. Klingt für meinen Geschmack auch etwas zu sehr nach einer altertümlichen Schauermär. Ich, für meinen Teil, glaube nicht mehr an solch spekulativen Nonsens.
»Ihre Pflichten erlauben ihr lediglich diesen einen Besuch pro Tag«, nahm ich den Faden wieder auf. Lord Sandford, oder Lord Sandy, wie Giniver und ich ihn später heimlich zu bezeichnen pflegten, begutachtete das ölgemalte Gesicht des Grafen eingehend.
»An was ist der Herr denn erkrankt, das ihn so lange Zeit ans Bett fesselt?«, fragte er und versuchte dabei, nicht allzu neugierig zu klingen.
»Eine kluge Frage«, heuchelte ich. »Und intelligente Männer sind ganz im Sinne der Lady. Es war der Kummer, Lord. Der Kummer, seine geliebte Tochter vor einiger Zeit verloren zu haben. Somit benötigt die Lady einen, nun, weltgewandten Mann, der die Lande jenseits unserer Insel kennt und der sich auf das Finden verschwundener Frauen versteht – und nicht lediglich auf das Suchen Selbiger.«
Er sah mich seltsam an. Ich wandte mich ihm zu und beugte mich nahe zu ihm hin, sodass er direkt in meine Augen blickte. »Und das allein ist der Grund, weshalb es Ihnen gestattet ist, dieses Haus zu betreten«, zischte ich.
Er hielt meinem Blick nur kurz stand. Jezabels hektisches Geflatter machte uns erneut Beine und wir stiegen ohne weitere Unterbrechungen die letzten Stufen hinauf. Noch einmal blieb er kurz vor einer kleinen Nische stehen, in der das Portrait einer besonderen Dame auf einem hölzernen Hocker stand. Um einer Beschreibung gerecht zu werden, müsste ich ihr ein eigenes Kapitel zugestehen. Seien Sie es also vorerst zufrieden, geschätzter Leser, dass sie zu diesem Zeitpunkt des Porträtierens von einer Zartheit war,
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