GLÄSERN (German Edition)
passierten wir einen besonders gewaltigen Spiegel, der in einer der Ecken lehnte. Lord Sandford betrachtete sich eine Weile stumm darin; ein Finger näherte sich der polierten Spiegelfläche und noch ehe ich etwas einwenden konnte, berührte er sein Ebenbild. Wie ein See, in den man ein Blatt schweben lässt, kräuselte sich die Oberfläche und sein Bildnis verzerrte sich zu einer noch groteskeren Version seines Selbst. Er schrak überrascht zurück. Und noch einmal, als neben seinem nassen Kopf mein ovales, blasses Gesicht mit den goldfarbenen Augen erschien.
»Lassen Sie das gefälligst«, zischte ich und stieß ihn mit der Schulter an. »Hier ist kein Spiegel einfach nur ein Spiegel. Und auch Ihnen sollte man irgendwann beigebracht haben, dass man nicht mit den Fingern guckt.«
Schnell blickte ich mich furchtsam um. »Außerdem werden Sie erwartet«, erinnerte ich uns beide, eilte voraus und öffnete langsam eine große Tür am Ende des Flurs.
Ich linste durch den Spalt, um zu sehen, ob die Lady bereit war. Selbstredend war sie es längst. Also ließ ich die Koffer zu Boden fallen und schob Lord Sandford kurzerhand hinein.
Meine Lady saß , ihren schmalen Rücken der kunstvoll verzierten Holztür zugewandt, und las. Sie drehte kaum den Kopf, als Lord Sandford ungebremst in die Bibliothek stolperte. Eventuell hatte ich ihm doch einen zu energischen Stoß gegeben, um ein wenig Zeit der durch ihn verschuldeten Verspätung einzuholen.
Die Lady neigte den grazilen Kopf, beendete ihre Lektüre und legte sie seelenruhig beiseite. Lord Sandy hatte sein kleines bisschen Schneid wiedergefunden und schritt nun mit frisch geschwellter Brust auf die Chaiselongue zu, auf der die Lady stets zu schmökern gedachte. Er stellte sich vor sie und machte einen ungelenken Diener, wobei er nur knapp ihre Stirn mit der seinen verfehlte. Ich legte peinlich berührt die Hand über die Augen und hörte, wie er dabei höchst ungalant schnaufte, angesichts dieser wohl ungewohnten körperlichen Belastung (später sollte er uns des Öfteren beweisen, dass sein eher steifer Körper lediglich zum Liegen, Sitzen und zur Not für kleinste Müßiggänge, beispielsweise bei randvoller Blase auf den Abort, vorgesehen war).
»Verehrte Lady. Meine Hochachtung«, keuchte er.
Die Lady lächelte ihn über eine leicht erhobene Schulter hinweg kalt an und wies ihm mit einem Kopfnicken den Platz ihr gegenüber in einem der ausladenden Ohrensessel zu. Er fiel mit einem Platschen – jawohl, mit einem Platschen! – hinein.
Ich zog mich nun vollends zurück, um meine Freundin Giniver, den einzigen tüchtigen Maidservant im Haus, mit dem Servieren des Tees zu beauftragen. Im letzten Moment wich ich der fliegenden Jezabel aus, die sich die Show in der Bibliothek nicht entgehen lassen wollte. Sie übernahm oft Botenflüge und Bespitzelungen für die Lady. Mir berichtete sie hingegen, wann im ›Ugly Frog‹ ein Pitcher zum halben Preis ausgeschrieben oder dort eine ordentliche Runde mit weniger ausgereiftem Hang zum ehrlichen Spiel anzutreffen war. Somit machte ich mich zügig auf den Weg, um schnellstmöglich ebenfalls dem Schauspiel beiwohnen zu können.
Die Lady saß aufrecht wie eine Tänzerin (nein, nicht die verderbte Art!) und hatte die Hände locker im Schoß gefaltet. Sie trug wie immer eines ihrer hochgeschlossenen Spitzenkleider mit gerüschtem Stehkragen, welches mit zahlreichen violetten Schleifchen und silbrigen Tüllbändern verziert war. Giniver hatte das feine Haar der Herrin mit einiger Fingerfertigkeit am Ansatz zu vielen filigranen Zöpfen geflochten, um es am Hinterkopf mit Bändern und Spangen zu einem imposanten Dutt zu toupieren. Es verlieh ihr eine Art elfenhafte Strenge und unterstrich ihre kühle Dominanz perfekt. Die hohen, dünnen Brauen und die schmalen Augen verhüllte sie wie stets mit feiner schwarzer Spitze, die über ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen floss und lediglich die Führung ihrer schmalen Nase und ihre filigranen Lippen dem Betrachter offenbarte.
Ihre schiere Eleganz wurde von einem leicht eckigen Gesicht und einem schwanengleichen Hals betont, feingliedrig und kühl – wie alles an ihr. Sie war unwirklich schön, jedoch ebenso frostig. Man munkelte, sie leide an ›nicht vorhandener Empathie‹ und besonders Verrückte erzählten, sie sei kein ›echter Mensch‹ , da sie niemals eine Gefühlsregung außer der nötigen Höflichkeit nach außen trug. Daher fürchtete man sie in erster Linie
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