Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
Unterschied zwischen den Leuten ersten Ranges und denen zweiten Ranges. Das Verbrechen kennt gleichfalls seine genialen Menschen, Jakob Collin hatte es jetzt, in seiner äußersten Bedrängnis, zusammen mit der ehrgeizigen Frau Camusot und mit Frau von Sérizy zu tun, deren Liebe unter dem Schlag der furchtbaren Katastrophe, die Lucien in den Abgrund riß, von neuem erwacht war. Das war der höchste Ansturm der menschlichen Intelligenz gegen den stählernen Panzer der Gerichtsbarkeit.
Als Jakob Collin das schwere Eisen der Schlösser und Riegel an seiner Tür kreischen hörte, nahm er die Maske des Sterbenden wieder vor. Ihm half dabei die berauschende Empfindung der Freude, die das Geräusch der Schuhe des Aufsehers auf dem Gang ln ihm weckte. Er wußte nicht, durch welche Mittel Asien ihren Weg zu ihm finden würde; aber er rechnete damit, sie jetzt zu treffen, vor allem seit er in der Arcade Saint-Jean ihr Versprechen erhalten hatte.
Asien war nach dieser glücklichen Begegnung auf den Richtplatz zurückgekehrt. Vor 1830 war jener ganze Teil des Kais zwischen dem Pont d'Arcole und dem Pont Louis-Philippe noch so, wie die Natur ihn geschaffen hatte, nur den gepflasterten Fahrweg ausgenommen, der übrigens geneigt angelegt war. Daher konnte man auch bei Überschwemmungen im Boot an den Häusern entlang und in die abfallenden Straßen hineinfahren, die zum Fluß hinunterführten. Auf diesem Kai waren selbst die Erdgeschosse um einige Stufen erhöht. Wenn das Wasser den Fuß der Häuser bespülte, fuhren die Wagen durch die furchtbare Rue de la Mortellerie, die heute ganz und gar niedergelegt worden ist, um das Rathaus zu vergrößern. Es war also für die falsche Obsthändlerin ein leichtes, den kleinen Wagen rasch bis unten ans Ufer zu schieben und dort zu verbergen, bis die wirkliche Händlerin, die übrigens den Erlös ihres Pauschalverkaufs in einer jener furchtbaren Schenken der Rue de la Mortellerie vertrank, wiederkam, um ihn sich dort zu holen, wo die Käuferin ihn zurückzulassen versprochen hatte. Eben vollendete man die Verbreiterung des Quai Pelletier; der Eingang zum Bauplatz wurde von einem Invaliden bewacht, und der seiner Obhut anvertraute Karren lief keinerlei Gefahr.
Asien nahm alsbald auf dem Rathausplatz einen Fiaker und sagte Zu dem Kutscher: »Zum Trödelmarkt, und Karriere; es gibt was zu verdienen!«
Eine Frau in Asiens Kleidung konnte sich, ohne die geringste Neugier zu erwecken, in der ungeheuren Halle verlieren, ln der sich alle Lumpen von Paris aufschichten, in der tausend Hausierer wimmeln und in der zweihundert Trödlerinnen schwätzen. Die beiden Untersuchungsgefangenen waren kaum aufgenommen worden, so ließ sie sich schon in einem kleinen und feuchten Zwischenstock über einem jener grauenhaften Läden, in denen man alle von Schneiderinnen und Schneidern gestohlenen Stoffreste verkauft, umkleiden; dieser Laden gehörte einem alten Mädchen, das ›die Romette‹ hieß, ein Name, der sich von ihrem Vornamen Jeromette herleitete. Die Romette war für die Kleiderhändlerinnen, was diese in der Not für die sogenannten anständigen Frauen sind: eine Wucherin für hundert Prozent.
»Mein Kind,« sagte Asien, »es handelt sich darum, mich herauszustaffieren. Ich muß mindestens eine Baronin des Faubourg Saint-Germain sein. Und vor allen Dingen schneller!« fuhr sie fort,» »ich stehe mit den Füßen in siedendem Öl. Du weißt, welche Kleider mir passen. Her mit dem Schminktopf; suche mir feine Spitzen und gib mir die auffallendsten Kinkerlitzchen. Schick die Kleine nach einem Fiaker; er soll an der Hintertür warten.« »Jawohl, gnädige Frau,« erwiderte das alte Mädchen mit der Unterwürfigkeit und dem Eifer einer Dienerin, die vor ihrer Herrin steht. Wenn diese Szene einen Zeugen gehabt hätte, er hätte leicht gesehen, daß die Frau, die sich unter dem Namen Asiens verbarg, hier zu Hause war.
»Man bietet mir Diamanten an...« sagte die Romette, während sie Asien frisierte. »Sind sie gestohlen?« »Ich glaube.« »Nun, wieviel du auch dabei verdienen kannst, liebes Kind, du mußt es dir versagen. Wir haben eine Weile die Neugierigen zu fürchten.«
Man versteht jetzt, wie Asien schon eine Viertelstunde, bevor der Richter eintraf, eine Vorladung in der Hand, im Vorsaal des Justizpalastes sein konnte, wo sie sich durch die Gänge und über die Treppen leiten ließ, die Zu den Untersuchungsrichtern führen, und nach Herrn Camusot fragte.
Asien sah sich selber nicht mehr
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