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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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in diesem Moment schien sie zu realisieren, wo sie war. Sie antwortete, er habe sich selbst verloren. ›Verloren?‹, fragte ich. ›Er findet den Weg zum Licht nicht‹, antwortete sie. Ich habe nicht genau verstanden, was sie damit meinte, aber sie wollte nicht darüber sprechen. Erst später hat sie es mir erklärt.«
    Maria trank etwas Wasser, bevor sie fortfuhr. »Sie sagte, die Seelen der Sterbenden müssen ihren Weg zum Licht finden. Das ist manchmal ein langer, verschlungener Weg, doch jede Seele hat so etwas wie einen Kompass, der sie zuverlässig leitet. Die Seele Ihres Sohnes jedoch weiß nicht, wohin sie gehen soll.«

|30| 3.
    »Hören Sie doch auf mit diesem Unsinn!«, rief ich so laut, dass sich die Köpfe an den Nachbartischen zu uns umwandten. »Ich will davon nichts mehr hören! Mein Sohn stirbt nicht!« Plötzlich begann ich zu zittern. Ein würgendes Geräusch entrang sich meiner Kehle, dann schüttelte mich ein Weinkrampf. Als Erwachsene habe ich nicht oft geweint, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Aber es war einfach zu viel.
    Maria starrte schweigend in ihr Glas.
    Nach einer Weile beruhigte ich mich. »Entschuldigen Sie. Es tut mir leid, dass ich die Fassung verloren habe. Ich glaube Ihnen, dass Sie für wahr halten, was Sie mir gerade erzählt haben. Aber wenn Ihre Tante tatsächlich mit Seelen sprechen kann, dann irrt sie sich! Mein Sohn sucht nicht den Weg ins Licht des Jenseits. Er sucht …«
    Ich stockte, als mir ein Gedanke kam. »Vielleicht … vielleicht haben Sie ja Ihre Tante falsch verstanden. Sie meinte möglicherweise nicht dieses Licht, das die Sterbenden anlockt. Oder vielleicht hat sie es selbst missverstanden. Sie hat vielleicht wirklich die Seele meines Sohnes gesehen, die in seinem Kopf herumirrte. Aber er suchte nicht das Licht der Nachwelt. Er sucht den Weg zurück in die Wirklichkeit!«
    Während ich redete, ließ Hoffnung mein Herz schneller schlagen, und sosehr ich mich auch bemühte, meine eigenen Erwartungen zu dämpfen, konnte ich meine Erregung doch nicht unterdrücken. Was, wenn es wirklich so war? Was, wenn Marias Tante keine Betrügerin war, |31| sondern tatsächlich Kontakt zu Erics Seele gehabt hatte? »Ich muss unbedingt mit ihr sprechen!«
    Maria wurde blass. »Ich … ich glaube nicht, dass das möglich ist. Ich habe Ihnen schon zu viel erzählt. Sie hat mir verboten, mit anderen darüber zu sprechen.«
    »Maria, bitte! Verstehen Sie denn nicht? Wenn es wirklich stimmt, was Ihre Tante sagt, wenn sie Erics Seele tatsächlich sieht, dann ist sie vielleicht die Einzige, die ihn aus dem Koma zurückholen kann! Bitte, Sie müssen mir helfen, Maria!«
    Die junge Pflegerin sah mich einen Moment lang zweifelnd an. Dann gab sie sich einen Ruck. »Also gut. Sie kommt übermorgen Abend. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass sie bereit sein wird, mit Ihnen zu reden.«
    »Danke, Maria! Vielen Dank!«
    In dieser Nacht hatte ich zum ersten Mal seit langem einen tiefen, erholsamen Schlaf. Doch als ich am nächsten Morgen ins Krankenhaus fuhr, kam ich mir albern und naiv vor. Hatte ich wirklich auch nur eine Sekunde lang geglaubt, Marias Tante könne mir mit ihrem esoterischen Hokuspokus helfen? Ein paar Mal war ich drauf und dran, zu Maria zu gehen und das Treffen abzusagen, aber jedes Mal war da diese kleine Stimme in meinem Hinterkopf, die mir zuflüsterte, ein Versuch könne ja schließlich nicht schaden.
    Als ich Emily Morrison am folgenden Abend zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass sie keine Betrügerin war und auch keine durchgeknallte Spinnerin. Sie war Anfang vierzig wie ich selbst, hochgewachsen, mit einer geraden Nase, schwarzem, streng zurückgebundenem Haar und einem ernsten Gesicht.
    Ich erhob mich vom Stuhl, den ich neben Erics Bett gezogen |32| hatte, und streckte ihr meine Hand entgegen. »Mein Name ist Anna Demmet.«
    »Emily Morrison.« Sie lächelte nicht. »Ich bin mir nicht sicher, ob mein Besuch hier von irgendeinem Nutzen sein kann.« Sie sah auf meine Hand, als fürchte sie, ich könnte eine ansteckende Krankheit haben. Erst nach kurzem Zögern griff sie zu.
    Etwas Merkwürdiges geschah, als unsere Hände sich berührten. Mir war, als verändere sich der Raum für einen kurzen Moment, als sei das Licht plötzlich anders. Ein seltsames Gefühl der Desorientierung überkam mich, wie man es manchmal hat, wenn man etwas in Gedanken tut und dann plötzlich nicht mehr genau weiß, was man eigentlich gerade macht und warum.
    Emily

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