Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
reglos stehen und hielt den Atem an, lauschte. Nichts regte sich. Sollten nicht von irgendwoher Stimmen zu hören sein, Geräusche von Bettfedern, Schnarchen? Camilla presste eine Hand gegen die Lippen. Sie wagte kaum, sich zu bewegen. Ihre nackten Füße würden Lärm verursachen und sie verraten. Würden die weißen Wände auf sie herabstürzen oder die Schatten lebendig werden, um sie zu zerreißen?
Ihr Herz raste. Unstet huschte ihr Blick hin und her. Nicht die geringste Kleinigkeit durfte ihr entgehen. Selbst die Pflanzen schienen nun bedrohlich in den Gang hineinzuragen, wurden zu tastenden, dünnen, endlos langen Fingern, die nach ihr griffen, um ihr etwas zu nehmen …
Sie wollten ihre Augen!
Angst schnürte ihr die Kehle zu. Hilflos fühlte sie sich ihrer Fantasie ausgeliefert, die eine Welt aus finstersten Albträumen spann und sie zu verschlucken drohte.
Im Augenwinkel sah sie eine Bewegung.
Ein heiserer Aufschrei entrang sich ihrer Kehle. Sie wollte herumfahren, blieb jedoch wie festgenagelt stehen. Jemand kam auf sie zu. Camilla kniff die Lider zusammen und ballte die Fäuste, darauf gefasst, dass sie um ihr Leben kämpfen musste.
Die Schuhe einer zerbrechlichen Gestalt verursachten leise Geräusche auf dem PVC. Erleichtert atmete Camilla auf.
Kein Monster!
Wenige Meter entfernt stoppten die Schritte. Im Mondlicht erkannte sie das ebenmäßig schöne Gesicht einer Frau. Ihre Makellosigkeit nahm Camilla fast den Atem. Die Fremde war klein, überaus zerbrechlich und strahlte die Grazie einer Königin aus. Seidig schwarzes Haar flutete über ihre Schultern bis zu den Knien hinab. Ihr einfaches graues Kleid wirkte konträr zu der stolzen Ausstrahlung.
Ein sonderbares Gefühl der Zugehörigkeit wischte durch ihren Kopf. Camilla wagte einige Schritte auf die Frau zu.
Die Fremde hielt die Lider gesenkt wie eine Schlafwandlerin, wandte sich um und ging wortlos den Flur entlang zum Treppenhaus. Genauso still folgte Camilla ihr auf nackten Füßen. Sie begegneten keiner Schwester, keinem Arzt oder Pfleger. Aus den Zimmern drang kein Laut.
Ihre stille Führerin stieg die Stufen hinunter. Camilla wagte nicht, auch nur ein Wort zu sagen, um das feine Band zu der Fremden nicht zu zerstören. Weshalb folgte sie ihr? Sie verstand nicht, warum. Erst recht schaffte sie es nicht, das Gefühl des Vertrauens einzuordnen, als wäre die Fremde ihr seit Jahren mit all ihren Geheimnissen wohlbekannt.
Der Gedanke irritierte sie. Camilla blieb stehen. Obwohl die Sicherheit, in der sie sich wähnte, unerschütterlich war, erkannte sie, dass etwas nicht stimmte.
In welchem Stockwerk lagen Theresa und sie? War das nicht die erste Etage gewesen?
Sie sah hinauf. Ihrem Gefühl nach stieg sie bereits seit drei oder vier Geschossen nach unten. Konnte es hier so viele Untergeschosse geben? Was wollte sie überhaupt hier?
Erst jetzt bemerkte sie die Veränderung. Die Wände bestanden nicht mehr aus dem typisch weißen Sichtputz, sondern aus gekalktem Mauerwerk. An manchen Stellen hatten sich Schimmelbeulen gebildet.
Camilla fröstelte. Das konnte nicht real sein. Sie befand sich in einer Klinik, nicht in einem Abbruchhaus.
Etwas berührte ihren Fuß.
Sie stieß einen spitzen Schrei aus und sprang zwei Stufen hinauf. Etwas Vielbeiniges mit Chitinpanzer huschte über die Steinstufen. Kleine Hornfüßchen kratzten in den Schatten über den klammen, kalten Untergrund. Camilla erschrak noch mehr, als ihre Führerin plötzlich vor ihr erschien und sie ansah. Leere, blutige Höhlen blickten ihr entgegen, hinter denen sich irgendetwas in wilder Hektik bewegte.
Ihr Herz setzte aus, bevor es mit unsäglicher Gewalt weiterhämmerte. Dann schrie sie.
Der Schrei begleitete sie in die Wirklichkeit. Camilla fuhr aus ihrem Traum auf und fand sich schweißnass in den dahinsiechenden Resten ihres Albtraumes wieder. Sie brauchte Sekunden, um zu realisieren, dass sie in ihrem Krankenhausbett saß.
Die Tür öffnete sich und eine junge Frau trat ein.
»Alles in Ordnung?«
Camilla nickte und fuhr zu Theresa herum. Hatte sie ihre Freundin geweckt? Ihr Unterkiefer klappte hinab. Sie wollte aufspringen, doch ihre Glieder fühlten sich an wie gelähmt.
Da war niemand, den sie aus dem Schlaf hätte reißen können. Theresas Bett war gemacht und leer. Der Schrank stand einen Spalt weit offen.
Von Angst getrieben schwang sie die Beine aus dem Bett und riss die Schranktür auf. Hektisch rückte sie den Bügel, auf dem ihre Hose hing, hin und
Weitere Kostenlose Bücher