Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
die hundertste Neuerzählung einer klassischen Horrorgeschichte sein sollte, in der irgendwelche Geister oder Monster Nachtwächter zerfleischen und in die Unterwelten schleppen, oder mutige Schüler sich nach durchgestandener Museumstour in den Unterwelten verlaufen.
Ich hatte einige Ideen, die nach dem ersten Durchspielen aller Möglichkeiten in den Müll wanderten. Zwischen Büchern über die Museumsinsel (das neue Museum und die Nofretete -Büste im Besonderen), Stadtführern und Google/Wikipedia-Ergebnissen verrennt man sich schnell. Nach guten zwei Tagen Lesens und vollkommenem Inspirationsmangel nahm ich den Berliner Bilderbogen aus dem Schrank und überflog die meisten Geschichten. Bei der Erzählung über E. T. A. Hoffmann blieb ich hängen. Hoffmann lebte in Berlin?
Zumindest ab 1798, und er arbeitete in Berlin. Er war eine schillernde Figur. Allein die Tatsache, dass er nicht nur einer seriösen Arbeit nachging (er war Gerichtsrat), sondern auch seine umfassenden Tätigkeiten in der Kunst als Autor, Musiker, Musikkritiker und Karikaturist, waren ein guter Einstieg. Hoffmann machte sich durch einige Spottgedichte mehrfach bei der Obrigkeit unbeliebt und wurde zwei Mal entlassen. 1822 starb er nur wenige hundert Meter von der Museumsinsel entfernt vollkommen vereinsamt an Syphilis.
http://de.wikipedia.org/wiki/E._T._A._Hoffmann
Zu Lebzeiten war er offenbar nicht der netteste Mensch, aber das tat seinen Geschichten keinen Abbruch.
Schon als Kind kannte ich seine Erzählungen und fand sie faszinierend. Meine beiden Lieblingsnovellen waren Der Sandmann (eines seiner Nachtstücke) und Das Fräulein von Scuderie (letzteres spielt allerdings in Frankreich und war als Ideengrundlage unbrauchbar).
Damals versuchte ich, mir vorzustellen, wie Olympia wohl aussehen konnte, warum Nathanaels Leben so aus dem Ruder lief, und stellte mir die Szene in Spalanzanis Werkstatt vor, aus der Coppola Olympia raubte. Diese Szene hatte es mir besonders angetan.
http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Sandmann_(Hoffmann)
Es musste also etwas in dieser Art vorkommen. Warum also nicht das Nachtstück nehmen und mit dem Leben Hoffmanns verquicken, um alles neu zu interpretieren?
Als ich mich gründlicher in die Unterwelten einlas, erfuhr ich vieles, das mir half, alle Punkte miteinander zu verbinden. Durch die Recherche eröffneten sich vollkommen neue Ansätze.
Nicht jeder weiß, dass Berlin tatsächlich eine Stadt auf zwei Ebenen ist. Während an der Oberfläche das Leben brodelt, befindet sich eine eigentlich ganz und gar nicht geheime Welt unter der Metropole.
Was fällt jedem zuerst bei dem Stichwort Unterwelten ein? Nein, natürlich nicht die Hölle, sondern das weitläufige U-Bahn-Streckennetz.
Das allein bietet schon viel Raum für Geschichten. Zum einen ist es recht alt (1902 in Betrieb genommen), zum anderen hat es eine nicht weniger wild bewegte Geschichte wie die ganze Stadt. Mit zurzeit 146 km Länge ist es bei Weitem nicht das größte Untergrundnetz in Europa. Trotzdem ist seine Geschichte spannend. Es wäre zu viel, hier die gesamte Historie aufzuzählen, aber so viel sollte gesagt sein: Durch den Bau der Berliner Mauer 1961 veränderte sich das Bild der Bahn.
Sogenannte Geisterbahnhöfe entstanden, solche, deren Bau nie beendet oder die nicht mehr genutzt wurden, gaben ein schauerliches Bild ab, wenn der Zug mit gedrosselter Geschwindigkeit hindurchfuhr.
http://de.wikipedia.org/wiki/Geisterbahnhof
Berlin hat eine nicht zu verachtende Anzahl solcher unheimlicher Orte. In einem dieser Geisterbahnhöfe spielt ein Teil der Geschichte, aber es gibt in den Unterwelten noch weitaus mehr. All die Fußgängertunnel, die Reichsbunkeranlagen, das faszinierende Rohrpostsystem, das 1865 in Betrieb genommen wurde und eine Streckenlänge vom 400 km besaß, die Kanalisation und die Gasometer …
Unter dem Volkspark Humboldthain befinden sich noch immer die gesprengten Trümmer des Flakturms. Man kann mit einer regulären Führung tief in die Erde hinabsteigen, um die zerstörten Bauwerke zu besichtigen. Unter der Oberfläche geht es tief hinab.
http://berliner-unterwelten.de/tour-e.338.0.html
All das sind Zutaten, die ich mir bei einem Mystery -Thriller nicht entgehen lassen konnte. Aber die Realität sieht anders aus. Die Welt unter der Welt braucht in der Realität kein Ancienne Cologne. Sie ist weitaus spannender und unheimlicher als jeder Horrorstreifen und die Struktur dessen, was sich
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