Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
aufschlug. Sie stützte ihre zierliche Freundin und führte sie zu einer Bank, ließ sie Platz nehmen und suchte in ihrer Jacke nach Taschentüchern. Das war es, was sie zuvor umklammert hatte. Die Taschentücher und die Geldbörse. Diese Erkenntnis erschien ihr plötzlich absurd in Anbetracht der Situation. Was in ihrem Kopf war so kaputt, dass sie keine Gefühlsregungen feststellte außer der Sorge um Theresa und schwachem Entsetzen? Ihr Verstand arbeitete viel zu genau und ihr Herz raste nicht annähernd so, wie sie es manchmal in ihren Albträumen spürte.
Der Geruch nach Säure und halb verdautem Frühstück stieg ihr in die Nase. Das Erbrochene war zu viel für ihren Magen. Sie versuchte, so wenig wie möglich zu atmen, als sie Theresa die Magensäuretropfen von den Lippen tupfte. Ihr wurde schlecht, doch als sie das Taschentuch ein Stück von sich auf den Boden warf, fing sie sich wieder. Sie ließ sich vor ihrer Freundin in die Hocke sinken und ergriff ihre Hände. Trotz der morgendlichen Julihitze fühlten sie sich an wie die einer Toten. Aus weit aufgerissenen Augen starrte Theresa durch sie hindurch. Der Anblick der blauen und der braunen Iris wirkte leicht verwirrend. Angst hatte sie dunkel gefärbt. Unwillkürlich fragte sich Camilla, was Theresa gesehen hatte? Das Gleiche wie sie?
Langsam kroch ein Hauch des Grauens in ihr Herz. Sie fror entsetzlich. Ihre Hände flatterten. Aber sie empfand nichts, es waren Theresas Gefühle, die sie in sich aufnahm.
Sie fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem sie von all den Emotionen überschwemmt würde, die sie bislang erfolgreich verdrängte. Doch im Moment konnte sie nichts weiter tun, als für Theresa da zu sein und alle Stärke aufzubringen, zu der sie in der Lage war. Nur wie lange hielt sie das durch?
Jenseits der Spreegabelung und der Museumsbrücke hielten Krankenwagen und Polizei. Sanitäter mit Bahre und Zinksarg überquerten den Steg und kamen die Stufen herauf, während uniformierte Polizisten Schaulustige zur Seite trieben.
Camillas Gedanken kreisten um den Selbstmörder. Warum war er gesprungen?
Ihr Blick schweifte über den Museumsvorplatz und über das ameisenartige Gewusel von Männern und Frauen in Uniformen. Weitere Fragen erwachten. Von welcher Stelle war er gesprungen? Über dem Haupteingang gab es aus ihrer Perspektive keine Möglichkeit, das Flachdach zu betreten. Möglicherweise irrte sie sich und er hatte den Sprung von ganz oben geschafft. Aber dann hätte er auf dem Vordach des Eingangs aufschlagen müssen, was ihm vermutlich schon im Vorfeld alle Knochen gebrochen hätte. Ihre Fantasie reichte mit Leichtigkeit aus, sich vorzustellen, wie er dann ausgesehen hätte. War er möglicherweise gestoßen worden?
Die morbiden Gedanken faszinierten sie ebenso sehr, wie sie ihr Angst einjagten. Über mangelnde und kranke Fantasie konnte sie sich nicht beklagen. Schließlich war sie in ihrer Kunstklasse als abartig und ein wenig verrückt verschrien, aber es gab eine Grenze zwischen Vorstellung und Wirklichkeit.
Es war keine Einbildung gewesen, wie die Augen des Toten zu Sand zerfallen waren, etwas, das zwar in Filmen und Büchern geschah, auch in den Comics, die sie zeichnete, aber nicht in der Realität. Theresa musste dieses Detail erst recht aufgefallen sein. Sie konnte seltsame Phänomene sehen und deuten.
Seit ihrer Kindergartenzeit schweißte diese Fähigkeit sie eng aneinander. Nur war Theresa immer diejenige, die dem Übernatürlichen offener gegenüberstand als sie. Umso schlimmer hatte sie das Erlebnis getroffen. Theresa sah furchtbar aus.
Ein weiterer Schauder lief ihr über den Rücken, während sich die erste gemeinsame Begegnung mit dem Übersinnlichen in ihre Gedanken schob. Damals waren sie noch kleine Mädchen, besuchten nicht einmal die Grundschule.
Theresas Eltern hatten ein altes Gehöft im Taunus gekauft, um dem Trubel der Frankfurter Innenstadt zu entrinnen. Der erste Besuch bei Theresa hatte sich nachhaltig in ihre Seele gefressen. Theresas Eltern feierten in dem ehemaligen Stall, der zur Galerie umgebaut worden war, während sie sich von ihrer Freundin das Wohngebäude zeigen ließ. Theresa hatte in Worte gefasst, was Camilla dachte: »Es ist, als würde man in ein Grab steigen. Das Haus lebt.« Von der ersten Sekunde an wusste sie, dass Theresa recht hatte.
Für einen Atemzug fühlte sie die kalten, feuchten Wände wie damals, roch den schimmligen Atem des jahrhundertealten Gebäudes, der sich trotz Sanierung
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