Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Reuss
alter Fälle angenommen, die von der Justiz als Unfälle statt als Tötungsdelikte
deklariert worden waren. Und er hatte zuletzt – auch das war aber nun schon
wieder eineinhalb Jahre her – das Rätsel um mysteriöse Steinschlagopfer gelöst.
Und sie selbst, Marielle Czerny, hatte dabei eine ganz entscheidende Rolle
gespielt.
»Ich glaube, es täte ihm verdammt gut, wenn ihr wieder in einem
Kriminalfall ermitteln würdet. Du und Reuss und dein Pablo. Und er natürlich.
Auch wenn er sich immer weniger bewegen kann – er würde euch eine große Hilfe
sein. Das steht für mich so fest wie die Annasäule da draußen.«
Marielle schüttelte nur den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck war ernst und
auch ein bisschen traurig.
»Hör mir bloß damit auf«, sagte sie. »Damals, als ich nach dieser
Wintertragödie an der Schattenwand in der Uniklinik lag, hat Paul mich besucht.
Ich kannte ihn überhaupt nicht. Er war einfach so da. Er war es, der mich dazu
überredet hat, mitzumachen bei seinem Detektivspiel –«
»Detektivspiel … Mach dich nicht lustig, bitte«, unterbrach Ellen
sie.
»Entschuldige. Aber versteh bitte auch, dass mich die nächste
Geschichte bis auf die Knochen und bis in die tiefste Seele hinein erschüttert
hat. Es ist kein Spaß, wenn man plötzlich einem Mörder gegenübersteht, der
nicht ganz richtig im Kopf ist. Und wenn man sieht, dass er einen Stein in der
Hand hat. Man braucht nicht viel Phantasie, um herauszufinden, was er damit
vorhat.«
»Aber es war doch wohl nicht –«
»Nein, es war nicht Pauls Schuld. Ich hab mich da ganz von allein
hineinmanövriert. Es war so eine Mischung aus Jagdfieber, Naivität und einfach
Dummheit. Meine innere Stimme hat mich mehr als einmal gewarnt. Aber ich hab nicht
auf sie gehört – und wäre beinahe draufgegangen. Du wirst verstehen, dass mein
Interesse am Lösen von Kriminalfällen ein sehr begrenztes ist. Ich mag nicht
mal mehr Krimis lesen.«
Ellen zeigte volles Verständnis. Und zugleich wirkte sie so hilflos,
schien sich an jeden kleinen Strohhalm zu klammern.
»Auch von Reuss kommt nichts. Er war zu Besuch da, ruft immer mal
wieder an. Aber es ist, als wäre sein Interesse an alten Fällen völlig
eingeschlafen.«
»Das liegt an etwas anderem«, erwiderte Marielle. »Reuss hat
momentan reichlich mit sich zu tun. Soweit ich weiß, stimmt es in seiner Ehe
schon lange nicht mehr. Dem ist wahrscheinlich nicht nach noch mehr schlechten
Schwingungen zumute. Der braucht im Augenblick keine Mordfälle.«
»Aber Paul braucht sie«, sagte Ellen. Sie trank den Verlängerten aus
und bat Marielle, möglichst bald bei Paul vorbeizuschauen.
Was sie nicht wusste war, dass die » TT «,
die sie für Paul hatte besorgen sollen und die in der modischen
Umhänge-Einkaufstasche steckte, eine Meldung enthielt, die Paul Schwarzenbacher
aus seiner Lethargie wecken würde.
Als sie in die Wohnung kam, war es still, keine Musik, kein
Fernseher. Sie betrat das Zimmer, in dem Paul meist seine Tage verbrachte, und
fand ihn ausgestreckt, wach, die Augen an die Decke gerichtet, als gäbe es
dort, am Plafond, etwas Interessantes zu lesen.
»Soll ich uns einen Tee machen?«
Er brummte etwas, was mit etwas gutem Willen als Bejahung verstanden
werden konnte.
»Schwarztee? Oder Früchtetee? Oder magst den Grünen mit den
gerösteten Reiskörnern drin?«
»Den grünen«, sagte er. Und dann fragte er, ob sie seine Zeitung
mitgebracht hatte.
»Freilich.« Sie holte sie aus der Tasche und warf sie ihm auf die
Couch. Als sie nach kurzer Zeit mit einem Tablett samt Teekanne und zwei
japanischen Teeschalen zurückkam, sah sie einen anderen Paul Schwarzenbacher
vor sich. Er hatte den Oberkörper aufgerichtet und sich ein Kissen hinter den
Rücken geklemmt, die Lesebrille saß leicht nach vorn gerutscht auf dem
Nasenrücken, und er war so vertieft in die Zeitung, wie sie es schon lange
nicht mehr erlebt hatte.
»Also, wenn die › TT ‹ so spannend ist,
dann sollten wir sie abonnieren«, sagte Ellen und goss den Tee ein, allerdings
erst, nachdem sie auf dem Couchtisch einiges Zeug zur Seite geschoben und so
wenigstens ein Minimum an Platz geschaffen hatte.
»Ich hol uns noch was zum Naschen – hab beim ›Murauer‹ Mandelbögen
mitgenommen, die magst du doch so gern –, und dann erzählst mir aber, was dich
so fesselt.«
Als sie zwei Minuten später aus der Küche kam, war Schwarzenbacher
bereits in ein Telefonat vertieft. Sie ahnte, mit wem er sprach, konnte sich
aber
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