Kuenstlernovellenovellen
HEINRICH MANN
KÜNSTLERNOVELLEN
HENSCHELVERLAG BERLIN 1965
3. Auflage, 19. bis 24. Tausend •
Verlagsrechte bei Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1961 •
Lizenz-Nr. 414.235/79/65 •
Schutzumschlag: Prof. Bert Heller •
Gesamtherstellung: Sachsendruck Plauen •
Printed in the German Democratic Republic
INHALT
Der Löwe .. ....................... 7
Das Stelldichein ............ 23
Pippo Spano ................. 29
Die Branzilla ................. 87
Szene ............................135
Die roten Schuhe .........146
Nachwort ......................159
Quellennachweis .. .....165
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DER LÖWE
„Wünschen Sie nichts dem Ähnliches!" sagte der alte Herr Franz Ruhnach, als wir nach der Vorstellung in seinem Arbeitszimmer beisammensaßen. „Wünschen Sie nicht die vollkommene theatralische Illusion kennenzulernen, das heißt diejenige Illusion, in welcher Wirklichkeit und Kunst unbedingt - und nicht etwa im Sinne einer ungenauen Phrase - ineinander übergegriffen haben. Denn der Vorgang, den ich meine, gehört zu den schrecklichsten inneren Erlebnissen, die sich auf zwei oder drei Herzschläge zusammendrängen lassen. Insofern wenigstens, als es sich um die tragische Illusion handelt, ist diese schlimmer als die tragische Wirklichkeit selbst. Der Augenblick, den wir in ihr durchleben, ist gleichsam der, den wir auf einer hohen, scharfen, unsere Füße durchschneidenden Kante ständen, bevor wir das Gleichgewicht verloren haben und es sich entscheidet, nach welcher Seite wir fallen - der Dichtung oder der Wirklichkeit zu. Da der Vorgang, den ich ein einziges Mal, als dreizehnjähriger Knabe, erlebt habe, gewiß zu den größten Seltenheiten gehört, so ist es Ihnen vielleicht angenehm, mir zuzuhören, während Sie Ihre Zigarre rauchen.
Von dem Gutshofe meines Vaters, der ein gutes Stück von der Küste fort hinter den Dünen lag, erstreckte sich das Dorf inmitten von Äckern und Wiesen in einer einzigen langen Straße bis an den Kirchplatz, der von Kirche, Gendarmerie und den Wirtschaftsgebäuden des Großbauern Prahl abgeschlossen wurde. Ich trieb mich, wenn ich in den Sommerferien zu Hause war, viel im Dorf umher, besonders zur Zeit des Marktes, der alljährlich in diese Wochen fiel und nicht nur bei uns, sondern im weiten Umkreise alles, was Bauer und Händler hieß, auf die Beine brachte. Ein unabsehbarer Zug von Landbewohnern und Vieh drängte dann von den Feldern durch den Lindengang bei der Kirche auf den Platz und quoll zur Gasse herein, so dicht, daß er die beiden niedrigen Häuserreihen noch weiter auseinanderschieben zu wollen schien, als sie schon standen. Die Geschäfte wurden meist in ziemlicher Stille, mit viel List und Vorsicht und wenig Worten, nach der Art unserer Bauern dort im Norden, geführt. Es war ein ungeheures Summen, das von dem Blöken, Brummen und Grunzen des Viehs übertönt wurde. Die Kleidung der Leute war in jener entfernten Zeit noch streng so bewahrt, wie sie von Urvätern überkommen war. Die Männer erschienen mit außerordentlich hohen, gradkrem-pigen Hüten und blauem, blankbeknöpftem Tuchwamse, an dem, wenn die Würde eines großen Besitzes es erforderte, ein Paar Frackschöße hingen, die Frauen in kunstvoll gekrauster Haube und unendlich weiten, eigengemachten Faltenröcken, die, schonend aufgehoben, leuchtende rote oder blaue Wollstrümpfe über strammen Waden und kaum weniger breiten Knöcheln sehen ließen. Das alles roch nach den stets ungelüfteten Spinden, in denen es aufbewahrt gewesen war, die Menschen selbst hatten einen Erd- und Stallduft an sich, dazu die durchdringenden Ausdünstungen des Viehs und über den verschiedenen Gerüchen und sie alle beherrschend, derjenige von Schmalzgebackenem. Es war ein achttägiges Fest, das mit Essen und Gelagen, die, von den beiden Schenken nicht mehr gefaßt, sich auf der Gasse fortsetzten, und meist auch mit Schaustellungen gefeiert wurde.
Außer den Gauklern und Tausendkünstlern, die tagsüber einen Kreis von Bewunderern um sich sammelten, war für den Abend meist eines der vielen herumziehenden Theater da, die es damals gab. Öiese Wandertruppen hatten in jener Zeit häufig noch ein eigenes, altmodisch-romantisches Gepräge, das ihnen heute in dem Maße, wie sich die Verkehrsbedingungen erleichtert haben, gründlich verlorengegangen ist. Es fanden sich noch Gesellschaften von einer Zusammensetzung und Art, die an die unter
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