Gletscherkalt - Alpen-Krimi
nicht sicher sein. Aus den Sätzen Pauls versuchte sie den Sinn
herauszuhören, und das war schwierig, ohne die Antwort der Person am anderen
Ende der Leitung zu kennen.
»Dir ist dieser Spiss doch ein Begriff. Nicht? … Ja, er hat einen
Reifenhandel aufgebaut, von Innsbruck aus … Wann er damit angefangen hat, weiß
ich nicht. Ich weiß nur, dass er vor Jahren an irgendeine Großkette verkauft
hat … Kein Nachfolger. Er war ein schwerreicher Mann … Hötting. Tolle Villa …
So einer hat auch viele Feinde …«
»Dein Tee wird kalt«, flüsterte Ellen.
Er sah sie, telefonierend, aus großen Augen an. Ihr kam es vor, als
wüsste er einen Augenblick gar nicht, wo er sich befand, wer sie war, was sie
hier tat. Dann aber huschte ihm ein kurzes Leuchten des Erkennens übers
Gesicht, und er schob die aufgeschlagene Zeitung zu ihr hinüber.
»Ich frage mich, warum der Mann Selbstmord begangen hat. Und
ausgerechnet an dieser sonderbaren Stelle …«
Ellen las die Überschrift in der » TT «,
den Bericht über den »Selbstmord des Innsbrucker Unternehmers Reinhold Spiss«.
Die Zeile unter der dicken Überschrift lautete: »Erhängt neben der
Brennerstraße gefunden – Motiv rätselhaft«.
»So einer hängt sich doch nicht neben der Straße auf … So wie ich
das lese, war sein Leichnam, als man ihn in den Morgenstunden gefunden hat,
weithin sichtbar … Ja, genau das meine ich: Entweder wollte er sich ganz
dramatisch in Szene setzen – oder sein Tod ist von jemandem in Szene gesetzt
worden … Nein, mit Hosp habe ich noch nicht gesprochen, wollte erst mal mit dir
drüber reden …«
Ellen überflog den Zeitungsbericht. Viel Neues war für sie nicht
mehr daraus zu entnehmen. Alle Eckdaten hatte sie aus Pauls Telefonat
heraushören können. Lediglich ein paar Details aus dem Privatleben des
Verstorbenen konnten ihre Aufmerksamkeit noch zusätzlich wecken.
Dass er vor Kurzem seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag gefeiert
hatte, im Kreise seiner Familie und engster Freunde; dass er unweit der
Hungerburg ein nobles Anwesen besaß; dass er einen lange zurückliegenden
Skandal gut überstanden hatte und das verloren gegangene Ansehen nachhaltig
hatte zurückgewinnen können; dass er sich auch als Privatmann nach dem Verkauf
seines Unternehmens noch sozial engagiert hatte – er hatte hohe Geldbeträge für
die Computerausstattungen an Tiroler Schulen zur Verfügung gestellt, und er
hatte alle Jahre in der Adventszeit für diverse Hilfsaktionen gespendet – und
dass er das Tiroler Landestheater seit Langem als Förderer unterstützt hatte.
»Weißt du, in welchen Skandal dieser Mann verwickelt war?«, fragte
sie Paul, als der sein Telefonat beendet hatte.
»Keine Ahnung. Aber das wird sich herausfinden lassen.«
Er trank einen Schluck vom grünen Tee, wischte sich den Mund,
ignorierte den Mandelbogen von »Murauer« völlig und griff wieder zum Telefon.
»Ich muss mit Hosp reden«, sagte er zu Ellen. »Ich möchte wissen, ob
er genauso denkt wie ich. Mit Reuss ist im Augenblick kein Staat zu machen.«
Sie erinnerte sich an die Worte Marielles. Es war kaum eine Stunde
her, dass sie sich getroffen hatten. Und plötzlich schienen sowohl Marielles
Aussagen Bestätigung zu finden wie auch Ellens Wunsch nach neuen Aufgaben für
ihren alten Kriminologen Paul Schwarzenbacher neue Hoffnung.
Sie biss in ihren Mandelbogen, hielt sich den Teller dabei dicht
unters Kinn – sie wusste aus Erfahrung, dass dieses ein wenig an den
italienischen Torrone erinnernde, mürbe Gebäck zwar gut schmeckte, aber auch
ein mittleres Fiasko auslösen konnte. Und sie hatte keine Lust, gleich mit der
Kehrschaufel oder dem Staubsauger anrücken zu müssen.
Sie wollte hören, was Paul mit Hosp besprach. Mit diesem Innsbrucker
Kommissar verband ihn nicht nur kriminalistisches Interesse, sie interessierten
sich auch beide sehr für Musik, insbesondere für Jazz, Hosp mehr für den etwas
altmodischeren aus den fünfziger Jahren, Paul mehr für das Ekstatische, das
danach kam: Coltrane, Davis und dann die ganzen Fusion-und Jazzrock-Projekte.
Damit kann ich nun wieder gar nicht viel anfangen, dachte sie.
Jazz war nicht das Ihre. Sie mochte Musik, doch zumeist mehr
nebenbei. Sie ging bisweilen auch in eine Oper, wenn sie nicht zu schwer
zugänglich war. Die Klassiker des Repertoires eben: Verdi, Puccini, Bizet,
Rossini, auch mal Mozart. Aber die Musik war ihr nicht ansatzweise so wichtig
wie Paul. Wobei sie Verständnis hatte für ihn.
Was
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