Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Sie
den Unterschied zwischen einem Schlachtrind und einem Kampfstier? Ich sage es
Ihnen! Das normale Rind wird in den Schlachthof getrieben wie die Juden damals
in die Gaskammer. Der Kampfstier nicht. Er kämpft. Er hat zwar keine reale
Chance, aber das weiß der ja nicht. Das wissen wir, Sie und ich. Das
Schlachtrind wird mit Elektroschockern malträtiert und bekommt am Schluss
seines Weges einen Bolzen in den Schädel geschossen. Erbärmlich, finden Sie
nicht? Meine Kampfstiere sind aggressiv, wenn sie in die Arenen stürmen. Sie
haben keine Angst. Stattdessen ein Ziel: diese so schwuchtelig und gleichzeitig
so machohaft anmutenden Männlein, die da im Sand der Arena herumtänzeln, auf
die Hörner zu nehmen. In dem Moment, da der Matador den tödlichen Stich setzt,
ist der Stier immer noch überzeugt, dieses ungleiche Duell für sich zu
entscheiden. Das sehen Sie an seiner Haltung, an der Art, wie er mit den Hufen
scharrt, wie er wütend Dampf ablässt. Es heißt ja auch ganz allgemein: Wer
kämpft, spürt den Schmerz nicht. Später natürlich schon, aber nicht während der
Auseinandersetzung. Also, bitte, hören Sie mir auf mit dem pharisäerhaften
Tierschutzgetue von Leuten, die sich, ohne auch nur eine Sekunde übers
Schlachten nachzudenken, im Supermarkt ihre eingeschweißten Steaks und Rouladen
kaufen …«
Kämpfen, dachte Hellwage. Ich muss kämpfen. Und ich muss
herausfinden, was der Kerl überhaupt von mir will.
Er schaffte es, den Stuhl wegzuschieben und weiterzurobben bis zur
Bank, die, an die Wand gelehnt, festen Stand hatte.
Mit den zusammengebundenen Händen konnte er sich kaum festhalten,
irgendwie aber gelang es. Er wand seinen Oberkörper auf die Sitzfläche der
Bank, er schrie vor Schmerzen dabei, aber die Gier nach etwas Trinkbarem half
ihm sogar darüber hinweg. Als er es geschafft hatte, auch noch die untere
Hälfte seines Körpers hinaufzuziehen, war er derart erschöpft, dass er
minutenlang nur keuchend nach Luft schnappen konnte. Er sah die Bierflasche,
sah, dass sie geöffnet und voll war, allein die Kraft, nach ihr zu greifen,
brachte er nicht auf. Erst als er wieder Schritte vor der Tür hörte und
panische Angst bekam, der Mann könnte hereinkommen und ihm das Bier vor der
Nase noch wegschnappen, griff er mit einer ungeheuren und schmerzhaften
Bewegung nach der Flasche, setzte sie an den Mund und trank und trank und
trank.
Hellwage spürte den Geschmack des Bieres. Und jetzt waren die Kühle
und das Bittere keine Fata Morgana mehr, nichts, was er sich nur einbildete.
Der erste Schluck war noch ein Problem, Zunge, Gaumen und Kiefer schienen die
Abstimmung verlernt zu haben, die für den Schluckvorgang nötig war. Deshalb
lief ihm das meiste wieder aus dem Mund, rann ihm schaumig übers Kinn, tropfte
auf seine Schlafanzugjacke und seine ohnehin versaute Schlafanzughose.
Der zweite Schluck aber war dann nur noch Wohltat. Das Bier füllte
seinen Mund, nahm ihm den schlechten Geschmack und strömte widerstandslos durch
seinen Hals bis in die Mitte seines Körpers. Belebend wirkte das, geradezu
unglaublich belebend. Hellwage konnte sich nicht erinnern, jemals etwas ähnlich
Gutes genossen zu haben wie dieses Bier. Er trank so lange ohne abzusetzen, bis
er durch die Nase nicht mehr genug Luft bekam. Da war die Flasche schon über
die Hälfte geleert, und in seinem Körper begann sich nach der ersten Kühlung
auch eine große, umfassende Wärme auszubreiten.
Er hatte die Flasche ausgetrunken, als der Mann wieder hereinkam.
»Schmeckt dir, was?«, fragte er und ließ sich ihm gegenüber auf den
Stuhl fallen. »Kannst noch eins haben.« Und er nahm den Flaschenöffner, bog den
Kronkorken auf und schob Hellwage die Flasche über den Tisch. »Trink!«, sagte
er.
Es machte ihm Mühe, die Flasche zu erreichen. Doch das erste Bier
hatte ihm Kraft gegeben und Zuversicht, und es hatte zugleich die Schmerzen ein
wenig gedämpft.
Gierig griff Hellwage nach der Flasche, setzte sie an die Lippen und
saugte sie bis auf den letzten Tropfen leer. Dann ließ er sich zurücksinken.
Nur mehr schlafen wollte er jetzt.
Schlafen. Schlafen. Schlafen.
»Müssen reden!«
Hellwage hörte die Stimme. Von weit her kam sie. Er wollte sie
ignorieren, wie er, seit er im Ruhestand war, bisweilen den Wecker ignorierte,
wenn ihm nach längerem Schlafen zumute war.
Durch die halb geschlossenen Lider sah er den Mann, der so
freundlich war und ihm Bier angeboten hatte. Er sah aber auch, dass noch mehr
Flaschen vor
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