Gletscherkalt - Alpen-Krimi
diesem Mann auf dem Tisch standen, und merkte, dass sein Durst
noch nicht gestillt war. Die beiden Flaschen hatten ihm gutgetan, oh ja, sehr,
sehr gut.
Reden, dachte er. Ich will nicht reden, nicht jetzt, später
vielleicht. Nur etwas trinken, ein Bier noch, später reden, später ja.
»Magst noch Bier, was?«, hörte er den Mann sagen. »Kriegst nix. Erst
reden, dann kriegst Bier. Verstehst?«
Hellwage spürte, dass sich seine lange von Schmerz und Qual
verkrampften Gesichtszüge zu lösen begannen und dass er, dessen glaubte er
sicher sein zu können, sogar zu lächeln begann. Er hatte nie viel Alkohol
getrunken, gern ein Glas Wein zum Essen oder zur Marende, nie über die Maßen.
Da waren zwei schnell hintereinander getrunkene Biere mehr als genug – und da
er sie in seinen geschundenen, seit Stunden oder Tagen ausgezehrten Körper
hineingeschüttet hatte, wirkte sich das aus wie ein starkes Rauschmittel.
Hellwage verlor den Bezug zur Wirklichkeit. Die Schmerzen schienen ihm
erträglicher, sein verrenkter Körper war plötzlich leichter, die Angst wich
einem dümmlichen Grinsen, und in ihm wurde es angenehm warm und wärmer. Ein
Bier noch, und dann schlafen. Und dann aufwachen. Und dann alles nur geträumt
haben. Und erfrischt aufstehen, vielleicht ein bisschen benommen im Kopf
rausgehen an die frische Morgenluft und barfuß im nassen Gras stehend zum
Ritten hinüberpinkeln.
Hellwage spürte Leben in sich, ein benommenes, betäubtes Leben, das
sich verschwommen abzeichnete, und er genoss, dass es noch etwas anderes gab
als Schmerzen.
»Ein Bier …«, sagte er. »Ein Bier noch …«
Der Mann aber reagierte nicht. Machte keine Flasche auf. Sagte
etwas, das er von einem Zettel ablas und von dem Hellwage so gut wie nichts
verstand. Nur Satzbrocken drangen bis in sein schwaches Bewusstsein durch.
»… Chefredakteur … Unternehmer Reinhold Spiss … Carla … Carla
Manczic totgefahren …«
Er fragte sich, was der Mann von ihm wollte. Sollte ihm noch ein
Bier geben und gut.
»… ›Tiroler Stern‹ … Hellwage verantwortlich … Fotograf hätte
helfen können … den Namen …«
Davon hatte er schon einmal gehört. Spiss, Carla Manczic. Kenne ich,
diese Geschichte, dachte er. Ja, kenne ich. Doch er hatte keine Ahnung, was ihn
das anging.
»Ich will wissen den Namen!« Der Mann schrie. Schrie ihn an. »Den
Namen von Fotografen! Verstehst, blödes Schwein? Sag mir Namen, und du bekommst
Bier …«
»Hellwage«, sagte Hellwage. »Mein Name ist Hellwage. Kann ich noch
ein Bier …?«
Da sprang der Mann auf, beugte sich über den Tisch, die Flaschen
fielen um, rollten über die Tischplatte, zerbarsten am Boden – und Hellwage
bekam eine derart brachiale Ohrfeige, dass er seitlich auf die Bank kippte. Er
schrie auf. Der Schmerz war wieder da, und der Schmerz von der Ohrfeige war der
geringste von allen. Das Bier hatte seine wohlige Wirkung von einer Sekunde auf
die andere verloren.
Es kam Hellwage wieder in Erinnerung, und es wurde ihm klar bewusst,
dass er ein Gefangener war, in der Gewalt dieses Mannes, der ihn aufs Brutalste
behandelt und gedemütigt hatte. Er zitterte.
Gefangen, gefesselt, geschlagen, besoffen.
Warum? Warum das alles?
Der Mann riss ihn hoch, ohrfeigte ihn ein weiteres Mal, ließ ihn
aber nicht wieder umkippen, sondern hielt ihn an der Schlafanzugjacke fest.
»Du sollst sagen, wer Foto von dem Mädchen gemacht. Carla, in
kaputten Auto. Wer? Ich will Namen!«
Trotz der Schmerzen und trotz seines vom Alkohol benebelten
Verstandes dämmerte ihm so etwas wie Erkenntnis … Diese tragische Geschichte …
Der Reifenhändler und die Schülerin … Oh ja, oh ja, es hatte Schlagzeilen
gegeben …
Gute Schlagzeilen, dachte er. Richtig gute Headlines. Und die hatten
für gute Umsätze gesorgt. Damals, dachte er, hat es noch genügt, dass ein
reicher Geschäftsmann ein Schulmädchen gefickt hat … Die Zeitung ist
weggegangen wie warme Semmeln …
»Erklären Sie mir das noch mal«, sagte er. Seine Stimme kam rau und
flüsternd. »Ich verstehe immer noch nicht.«
Der Mann wollte den Zettel aufheben, von dem er zuvor abgelesen
hatte, ließ es sein, als er merkte, dass er zwischen Glasscherben in einer
Bierpfütze lag, und sagte Hellwage in abgehackten Sätzen und ohne Zettel, um
was es ging.
Hellwage hörte ganz genau zu, versuchte jede Einzelheit zu erfassen,
schüttelte dann jedoch den Kopf.
»Ich muss nachdenken. Es ist so lange her.«
»Den Namen!«, schrie ihn der Mann an. »Sag
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