Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Den Mann, den er als unheimlich
und mysteriös empfunden und den er rasch aus seinem Gedächtnis zu streichen
versucht hatte.
Jetzt waren die Bilder wieder da: die herrliche Landschaft, der
Dreihundertsechzig-Grad-Rundumblick und mittendrin dieser Kerl, der mit ihm
redete, obwohl er weder reden noch zuhören wollte.
Ein unerfreuliches Erlebnis.
Und dazu noch die Angst.
Wenn ich doch nur einen Hund hätte, dachte er.
Einen großen, starken Hund.
4
Die Aufgabe, den alten Manczic zu beschatten, war für Marielle
und Pablo einfach und schwierig zugleich. Schwierig deshalb, weil es ein Ding
der Unmöglichkeit war, ihm rund um die Uhr auf den Fersen zu sein
beziehungsweise die ganze Nacht vor seiner Haustür zu sitzen und zu warten, ob
er noch mal rauskäme.
Leicht war es deshalb, weil es kaum Mühe machte, seine Aktivitäten
zu überwachen. Es kostete viel Zeit, das ja. Aber ansonsten gab es überhaupt
keine Probleme.
»Hätte mich ja auch gewundert«, sagte Marielle, als sie einmal von
Pablo abgelöst wurde. »Er ist um neun aus dem Haus gekommen, mit der
Straßenbahn bis zum Bahnhof gefahren, dann im Zickzack durch die Straßen:
Bozner Platz, am ›Café Central‹ vorbei, Ferdinandeum, Hofburg, Hofgarten,
Dachl, vorbei am Strip-Lokal beim ›Treibhaus‹ und dann in die Jesuitenkirche.
Ich bin da nicht mit rein. Hab gedacht, das könnte ihm auffallen, dass ich
immer in seiner Nähe bin, sogar in der Kirche noch. Hab zwanzig Minuten gewartet.
Dann kam er wieder.«
»Und dann? Ist er heimgegangen?«
»Noch nicht. Er ist wieder Richtung Hauptbahnhof, hat sich unterwegs
mit einem ›20er‹-Verkäufer unterhalten – weißt schon, so einer, der das
Stadtmagazin auf der Straße verkauft – und ist dann in die Adamgasse, wo er
sich bei der Tafel Lebensmittel geholt hat. Dann erst ist er heim.«
»Sehr aufregend«, sagte Pablo. »Ich weiß nicht, was Hosp sich davon
verspricht. Der alte Mann mag verrückt sein. Vielleicht ist er besessen, träumt
jede Nacht von blutiger Rache. Aber dass der noch in der Lage ist, jemanden zu
ermorden, das kann mir keiner erzählen.«
Auch die weiteren Tage von Pablo und Marielle waren völlig
unspektakulär. Sie beobachteten einen Menschen in seiner Einsamkeit und
Verlorenheit, konnten nichts Außergewöhnliches notieren und wussten, dass die
Tage dieses Mannes allein schon vom Alter her, wahrscheinlich aber auch wegen
der schlechten Lebensbedingungen gezählt waren.
Sie waren schon nahe dran, Schwarzenbacher zu informieren, dass das
alles keinen Sinn habe – als sich dann doch etwas ereignete. Nichts, was sofort
die Alarmglocken hätte auslösen können. Aber doch eine auffällige Durchbrechung
des bisher festgestellten Lebensrhythmus des Herrn Manczic.
Es war an einem Freitag, und Pablo wartete unweit des Mietshauses,
in dem Manczic wohnte. Vormittags war der wieder wie ziellos durch die Stadt
gelaufen, gegen Mittag war er heimgegangen, und es wäre beinahe nicht anzunehmen
gewesen, dass er das Haus noch einmal verließ. Doch er tat es. Um halb eins
machte er sich in ungewöhnlicher Zielstrebigkeit auf den Weg zum Bahnhof und
löste einen Fahrschein.
»Scheiße, scheiße, scheiße«, fluchte Pablo vor sich hin. Er hatte
keine Ahnung, wohin der Mann fahren wollte, welchen Fahrschein er nun lösen
sollte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn zu verfolgen, zu checken,
auf welchem Bahnsteig er wartete, dann zurückzulaufen zum Ticket-Automaten und
eine Karte nach Kufstein zu kaufen. Vielleicht fuhr Manczic ja nur bis Wattens,
bis Jenbach oder bis Wörgl. Doch woher hätte er das wissen sollen?
Der Zug stand bereits abfahrbereit am Gleis, als Pablo im
Laufschritt ankam und bei der nächstbesten offenen Tür aufsprang.
Er brauchte nicht lange, um Manczic an einem Fensterplatz zu
entdecken. Er hielt sich ein paar Reihen hinter ihm, bereit, jederzeit
auszusteigen, sobald Manczic das Gleiche vorhaben würde.
Pablo war erstaunt über das Verhalten des alten Mannes: dass er so
ruhig am Fenster saß, hinaussah in die Vorstadt von Innsbruck, die, Gewerbezone
an Gewerbezone reihend, nahtlos in die alte Stadt Hall überging. Dass er so
gänzlich unauffällig wirkte, nicht vor sich hin sprach, einfach nur dasaß, wie
jeder andere Fahrgast auch. Es war ihm, als würde er bei dieser Zugfahrt einen
anderen Manczic erleben als bisher. Einen, der nicht verrückt war, zumindest
nichts davon erkennen ließ.
Manczic fuhr auch tatsächlich nur bis Fritzens-Wattens. Pablo
ärgerte sich,
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