Gletscherkalt - Alpen-Krimi
bist, gehe ich eh durch dick und dünn …«
Paul sah ihr lange in die Augen. Sie hatte das Gefühl, dass er in
sie hineinblickte und tief in ihrem Inneren ihre Seele sah.
Seele oder was auch immer, dachte sie. Ist ja auch egal.
»Die Sache ist die«, fing Paul an, und Ellen entging die
Umständlichkeit nicht. »Die Sache ist die, dass ich mit einem alten
Staatsanwalt sprechen möchte. Wegen diesem Mann, den man an der Brennerstraße
an einen Baum gehängt hat, du weißt schon. Und dieser Mann ist ein bisschen
schwierig …«
»Der Mann am Baum?«
Einen Augenblick lang stutzte Paul. Dann sagte er mit einem breiten
Grinsen: »Lästermaul! Über Tote lässt sich gut spotten, die können sich nicht
mehr wehren. Aber gib Obacht: Irgendwann kehren sie als Geister zurück und
packen dich am Hals.«
Mit zittrigen Stummfilm-Fingern kitzelte er sie im Nacken.
»Nein«, sagte er dann. »Nicht der Mann am Baum ist schwierig.
Staatsanwalt Kröninger ist es. Zu seiner Zeit war er eine echte Kapazität. Er
ist schon lange im Ruhestand. Wenn man ihn heute auf alte Fälle anspricht,
nimmt er das sehr persönlich. Denkt, man macht ihm einen Vorwurf oder so etwas.
Als wir zuletzt bei ihm waren, es ist eine Zeit lang her, es ging um die
Steinschlagtoten, muss er danach einen Zusammenbruch erlitten haben. Ich habe ihn
erlebt, als er und ich noch im Dienst standen. Er war mir nicht sympathisch,
und ich glaube, er hat mich nie leiden können. Und seit dem letzten Mal hat er
mich gewiss dick.«
»Und du musst mit ihm reden, weil er auch in deinem neuen Fall die
früheren Ermittlungen geführt hat?«
Paul nickte. Dann schüttelte er den Kopf. »Ist nicht mein Fall. Ich
mach mir halt nur so meine Gedanken. Tut ja auch ganz gut, ein bisschen
Gehirnzellenjogging zu betreiben – wenn schon der Rest vom ganzen Kerl nichts
mehr taugt.«
Jetzt sah sie ihn lange an.
Mein Gott, dachte sie, bin ich froh, dass er wieder etwas zu
ermitteln hat. Gehirnzellenjogging, wie er das nennt.
Und sie sagte ihm: »Natürlich ist es dein Fall. Stell dein Licht
nicht unter den Scheffel. Und dass der ganze Kerl ansonsten zu nichts mehr
taugt, das halte ich wirklich für ein Gerücht.«
*
Staatsanwalt a. D. Dr. Kröninger war sofort bereit, sich
mit ihnen zu treffen. Doch anders als bei der letzten Geschichte empfing er sie
nicht bei sich zu Hause. »Ich bin heute am Nachmittag eh in der Stadt«, sagte
er zu Ellen am Telefon. »Da hätte ich Zeit, mich mit Schwarzenbacher zu
treffen. Sie sagen, es geht um den Reifenhändler Spiss? Ist lange her, diese
Sache. Bin mir nicht sicher, ob ich ihm da noch viel helfen kann. Aber man weiß
ja nie …«
»Wie war er?«, fragte Schwarzenbacher, der dem Telefonat gelauscht
hatte.
»Ganz in Ordnung«, sagte Ellen. »Höflich, ein bisschen reserviert,
ein bisschen steif. Ein Jurist halt. Ich meine, ein Jurist, der kein
Rechtsanwalt ist. Sondern so einer, der sich für besser hält als den Rest der
Welt. Richter oder Staatsanwalt oder so was eben. Aber vielleicht liege ich ja
auch falsch. Die paar Sätze, die er gesprochen hat, sind da noch nicht wirklich
aussagekräftig.«
Sie trafen ihn im »Café Munding«. Schwarzenbacher war froh, dass er
allein kam, ohne seine Frau, denn die war ihm zuletzt richtig auf die Nerven
gegangen. Er hatte sie in Erinnerung als eine Teetasse aus hauchdünnem
Porzellan – die Haut beinahe durchsichtig, der Gesichtsausdruck mit leichtem
Leid und eingebildetem Schmerz geschminkt. Er hatte für diesen Typ Frau so
überhaupt nichts übrig. Und er wurde noch immer wütend, wenn er an ihre
blasierte Art dachte, mit der sie ihm damals begegnet war.
Sie nahmen einen Tisch im Café, das mit seinem
Sechziger-Jahre-Charme ein gewisser Anachronismus war. Drinnen war es ziemlich
leer; die Leute saßen bei Kaffee und Kuchen draußen im Freien und schauten der
Stadt beim Leben zu.
»Sie wollen also wissen, wie das mit Spiss und dem Mädchen so war«,
begann Kröninger. »Es ist sehr lange her, aber ich könnte Akteneinsicht
beantragen. Doch wie ich Sie kenne, wissen Sie über die kriminalistisch
relevanten Belange längst Bescheid.«
Er sah Schwarzenbacher durchdringend an.
Der findet die kleinste Lüge in jedem noch so unbeleckten Charakter,
dachte Ellen, die ihren Ellenbogen auf die Armlehne von Pauls Rollstuhl gelegt
hatte. Obwohl sie nichts zu verbergen hatte, fühlte sie sich nicht wohl in der
Nähe dieses Mannes, der alt war und schon lange pensioniert, der jedoch immer
noch
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