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Glücklich die Glücklichen

Glücklich die Glücklichen

Titel: Glücklich die Glücklichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Reza
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Leber. Der Mann nickt, er kennt das Lied. – Aber ich bin atypisch, wissen Sie, fügt meine Mutter hinzu, ich mache nichts so wie die anderen, Chemla sagt mir jedes Mal, Paulette (er nennt mich Paulette, ich bin seine Lieblingspatientin), Sie sind total atypisch, will sagen, Sie hätten schon längst abkratzen müssen. Meine Mutter lacht herzlich, der Mann auch. Ich frage mich derweil, ob es nicht höchste Zeit wird, zum Quiz zurückzukehren. – Er ist großartig, das stimmt schon, fängt meine unkontrollierbar gewordene Mutter wieder an, und ich finde ihn auch persönlich sehr anziehend. Als ich ihn zum ersten Mal sah, fragte ich ihn, sind Sie verheiratet, Doktor Chemla ? Haben Sie Kinder ? Keine Kinder. Soll ich Ihnen zeigen, fragte ich, wie das geht ? Ich drücke ihre Hand, deren Haut ausgetrocknet und von den Medikamenten verändert ist, und sage, Maman, hör zu. – Was denn, sagt meine Mutter, das ist die Wahrheit, er war begeistert, er hat sich kaputtgelacht, so hab ich selten einen Krebsarzt lachen sehen. Der Mann nickt. Er sagt, er ist ein großer Mann, Chemla, eine Seele. Einmal, das werde ich nie vergessen, hat er folgenden Satz gesagt, wenn jemand in meine Praxis kommt, dann ehrt er mich. Wissen Sie, dass er noch nicht mal vierzig ist ? Meiner Mutter ist das vollkommen wurscht. Sie bleibt auf ihrer Schiene, so als hätte sie nichts gehört. – Am Freitag, sie spricht immer lauter, da hab ich zu ihm gesagt, Doktor Ayoun (das ist mein Kardiologe) ist ein viel besserer Arzt als Sie, oh, das würde mich wundern, doch, er hat mir sofort ein Kompliment für meinen neuen Hut gemacht, und Sie, Doktor Chemla, Sie haben ihn nicht einmal bemerkt. Ich brauche Bewegung. Ich stehe auf und sage, Maman, ich frag mal die Sprechstundenhilfe, wann du drankommst. Meine Mutter dreht sich zu ihrem neuen Freund: Er will rauchen, mein Sohn will raus und eine rauchen, das heißt es nämlich, sagen Sie ihm, dass er sich damit auf kleiner Flamme umbringt, und das mit dreiundvierzig. – Na, dann sterben wir zusammen, Maman, sage ich, du musst auch die positive Seite der Dinge sehen. – Sehr witzig, sagt meine Mutter. Der Mann mit der gepunkteten Krawatte zwickt sich in die Nasenflügel und atmet ein wie jemand, der gleich etwas Entscheidendes verlautbaren wird. Ich schneide ihm das Wort ab, um klarzustellen, dass ich nicht zum Rauchen raus will, auch wenn mir ein Schuss Nikotin jetzt sehr guttun würde, sondern dass ich nur zur Sprechstundenhilfe will. Als ich zurückkomme, informiere ich meine Mutter, dass sie in zehn Minuten ihre Bestrahlung kriegt und dass Doktor Chemla noch nicht da ist. – Ah, typisch Chemla, diese chaotische Zeitplanung, er begreift nicht, dass unsereiner auch noch ein eigenes Leben hat, sagt der Mann, froh, dass er erneut seine Stimme hören lassen kann, und in der Hoffnung, die Oberhand zu behalten. Aber meine Mutter kontert schon: Mit der Sprechstundenhilfe komme ich bestens klar, die nimmt mich immer zu Anfang der Sprechstunde dran, ich nenne sie Virginie, sie mag mich total, fügt meine Mutter leise hinzu, ich sag zu ihr, seien Sie lieb, geben Sie mir den ersten Termin, meine kleine Virginie, das mag sie, dann fühlt sie sich persönlich angesprochen. Vincent, Schatz, wollen wir ihr nicht nächstes Mal Pralinen mitbringen ? – Warum nicht, sag ich. – Was ? Du nuschelst dir was in den Bart. Ich sage, das ist eine gute Idee. – Da hätten wir schon die Vanillekipferl von Roseline loswerden können, sagt meine Mutter, ich hab die Schachtel noch nicht mal aufgemacht. Sie kann keine backen, es ist, als würde man auf Sand rumkauen. Arme Roseline, sie kommt einem inzwischen vor wie ein klappernder Schlüsselbund. Sie ist nicht mehr sie selbst, seit ihre Tochter im Tsunami umgekommen ist, sie war eine der fünfundzwanzig Leichen, die nie gefunden wurden, Roseline glaubt, dass sie immer noch am Leben ist, ab und zu regt mich das auf, dann möchte ich ihr am liebsten sagen, ja, klar, bestimmt von Schimpansen aufgezogen, inklusive Gedächtnisverlust. Ich sage, sei nicht fies, Maman. – Ich bin nicht fies, aber man muss sein Schicksal auch annehmen, wir wissen doch alle, dass die Welt ein Tal der Tränen ist. Ein Tal der Tränen, das war ein Ausdruck deines Vaters, weißt du noch ? Ich antworte, ja, ich weiß es noch. Der Mann mit der gepunkteten Krawatte hat sich offenbar wieder düsteren Gedanken zugewandt. Er hat sich nach vorn gebeugt, und ich bemerke eine Krücke, die neben seinem Platz

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