Glücklich die Glücklichen
diesem Augenblick ruft eine Schwester Monsieur Ehrenfried auf. Der Mann greift nach seiner Krücke, seiner Glencheck-Mütze und einem Lodenmantel, der auf dem Stuhl neben ihm liegt. Noch im Sitzen neigt er sich zu meiner Mutter und murmelt: Das Leben vielleicht, aber nicht Israel. Dann stützt er seinen Arm in den Krückengriff und erhebt sich mühsam. – Die Pflicht ruft, sagt er und verbeugt sich, Jean Ehrenfried, es war mir ein Vergnügen. Man merkt, dass ihm jede Bewegung schwerfällt, aber er bewahrt sein Lächeln. – Der Hut, den Sie heute tragen, fügt er hinzu, ist das der, für den Ihnen der Kardiologe Komplimente gemacht hat ? Meine Mutter berührt ihren Hut, um es nachzuprüfen. – Nein, nein, das hier ist der Luchs. Der von Doktor Ayoun ist eine Art Borsalino mit einer schwarzen Samtrose. – Also, Kompliment für den von heute, kann ich nur sagen, er hat dieses Wartezimmer veredelt, sagt der Mann. – Das ist meine kleine Luchskappe, sagt meine Mutter, hibbelig vor Freude, ich habe sie seit vierzig Jahren, steht sie mir noch ? – Ganz hervorragend, sagt Jean Ehrenfried und schwenkt zum Gruß seine Mütze. Wir sehen ihm nach, wie er durch die Tür zur Strahlentherapie verschwindet. Meine Mutter steckt die geschundenen Hände in ihre Handtasche. Sie zieht eine Puderdose und einen Lippenstift hervor und sagt, er hinkt, der Arme, was meinst du, hat er sich in mich verliebt ?
Pascaline Hutner
Das haben wir nicht kommen sehen. Wir haben nicht gemerkt, wie die Situation kippte. Nein. Weder Lionel noch ich. Wir sind allein und hilflos. Mit wem sollen wir darüber reden ? Man müsste es schaffen, darüber zu reden, aber wem soll man so ein Geheimnis anvertrauen ? Man müsste es vertrauenswürdigen Leuten sagen können, mitfühlenden, die über das Thema keine Witze machen. Wir ertragen nicht den Hauch eines Witzes über das Thema, auch wenn uns beiden, Lionel und mir, sehr wohl bewusst ist, dass wir, wenn es nicht um unseren Sohn ginge, auch durchaus darüber lachen könnten. Und sogar unter Leuten, beim geringsten Anlass, um ehrlich zu sein. Nicht mal Odile und Robert haben wir es erzählt. Die Toscanos sind schon ewig mit uns befreundet, obwohl es gar nicht so einfach ist, eine Freundschaft zwischen zwei Paaren zu pflegen. Eine tiefe, wohlgemerkt. Letzten Endes sind wirklich vertraute zwischenmenschliche Beziehungen nur zu zweit möglich. Wir hätten uns getrennt treffen müssen, unter Frauen oder unter Männern oder vielleicht sogar über Kreuz (falls Robert und ich es irgendwann schaffen sollten, uns mal etwas unter vier Augen zu sagen). Die Toscanos machen sich über unsere symbiotische Art lustig. Sie haben uns gegenüber eine permanente Ironie entwickelt, die mich so langsam ermüdet. Man kann kein Wort mehr sagen, ohne dass sie uns das Bild eines Paares spiegeln, das in seinem erstickenden Wohlbefinden festsitzt. Neulich erwähnte ich unglücklicherweise, ich hätte einen Steinbutt in der Kruste zubereitet (ich nehme an einem Kochkurs teil, das macht mir Spaß). Einen Steinbutt in der Kruste ?, fragte Odile, als hätte ich eine Fremdsprache gesprochen. – Ja, einen Steinbutt in der Kruste, in Fischform. – Wie viele wart ihr denn ? – Wir beide, sagte ich, Lionel und ich, es war für uns beide. – Nur für euch beide, das ist ja furchterregend !, sagte Odile. Meine Cousine Josiane, die auch dabei war, meinte, wieso, ich wäre imstande und würde mir einen Steinbutt in der Kruste für mich allein machen. Für dich allein, hui, das nimmt ja Dimensionen an, Robert musste natürlich gleich nachlegen, ein Steinbutt in der Kruste und die Kruste in Form eines Fisches und das für sich selbst ganz allein, das reicht schon ins Tragische. Normalerweise tue ich so, als würde ich das gar nicht mitkriegen, damit sich die Atmosphäre nicht vergiftet. Lionel ist es wurscht. Wenn ich mit ihm darüber rede, sagt er, die sind bloß neidisch, und das Glück der anderen wird oft als Angriff empfunden. Wenn wir erzählen würden, was uns gerade passiert, kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendwer darauf neidisch wäre. Aber gerade weil wir den Inbegriff von Harmonie verkörpern, ist es so schwer, die Katastrophe einzugestehen. Ich kann mir schon vorstellen, wie sich Leute von der Sorte der Toscanos das Maul zerreißen. Wenn man die Situation verstehen will, muss man ein Stück zurückgehen. Unser Sohn Jacob, er ist gerade neunzehn geworden, war schon immer ein Fan der Sängerin Céline Dion. Ich
Weitere Kostenlose Bücher