Glückskind (German Edition)
breitschultriger Hüne, der vor niemandem Angst zu haben brauchte, auch nicht vor ihm. Rolf hatte Rede und Antwort gestanden, wenn Hans es verlangte, hatte alle Freiheiten verraten, die Hanna sich herausnahm, hatte zu seinem Vater gehalten, bis er fünfzehn Jahre alt wurde. Dann war alles anders geworden, und Hans hatte zuerst noch gedacht: Es sind Kinder, die kriegen sich schon wieder ein, mein Vater hat nie eine Erklärung gegeben, sich nicht einmal entschuldigt, warum sollte ich damit anfangen? Aber sie haben sich nicht mehr eingekriegt, nicht wahr, Hans, denkt Hans, bis heute nicht.
In diesem Augenblick geht die junge Frau an Hans vorbei und verlässt den Laden. Hans hebt den Kopf, Herr Wenzel schaut ihn erwartungsvoll an.
»Nun, Hans«, sagt er, »hast du die Zeitung gelesen?«
Hans nickt.
»Und?«, fragt Herr Wenzel.
Hans weiß nicht, was er sagen will. Deshalb sagt er: »Sie lag in der Mülltonne, ich habe sie gerettet, sie hat niemanden, sie braucht mich, wollen Sie sie mir wegnehmen?« Hans ist immer lauter geworden, jetzt hält er erschrocken inne.
Herr Wenzel kommt um die Theke herum mit seinen kleinen Schritten und seinem gebeugten Körper, jetzt steht er vor Hans und ist nicht mehr der Ladenbesitzer. Er macht ein bekümmertes Gesicht, leise sagt er: »Das ist schrecklich, Hans, schrecklich.« Er kommt ganz nahe, er will das Kind aus dem Müll noch einmal neu anschauen, aber Hans weicht jetzt zurück, er will Felizia nicht mehr herzeigen. Herr Wenzel lächelt traurig. Er sagt: »Was wirst du jetzt tun, Hans?«
Hans sagt trotzig: »Ich werde sie großziehen, ich habe sie aus dem Müll gezogen, sie wird bei mir bleiben, sie wird in den Kindergarten gehen, in die Schule, sie wird ein ganz normales Leben haben, ich werde ihr erzählen, dass ihre Eltern tot sind, dass ich ihr Großvater bin, sie wird nie erfahren, was wirklich geschehen ist …« Er hört auf zu sprechen, denn Herr Wenzel sieht ihn auf einmal ganz verstört an. Hans wartet.
Herr Wenzel fasst sich wieder. Dann sagt er mit seiner sanften Stimme und seinem traurigen Lächeln: »Aber Hans, hast du sie denn gerettet, um sie anzulügen?«
Hans macht den Mund auf und dann wieder zu. Er hat keine Antwort. Er legt die Hände schützend um Felizia, die immer noch schläft und nicht ahnt, dass hier zwei alte Männer über ihr Schicksal verhandeln. Hans schluchzt. Herr Wenzel klopft ihm ungeschickt auf die Schulter.
Hans stammelt: »Soll ich ihr denn sagen, dass ihre Mutter sie weggeworfen hat?« Er verliert die Fassung, alles in ihm krampft sich zusammen und er heult auf, während er weint. Herr Wenzel eilt an ihm vorbei, sperrt den Laden zu und zieht den Vorhang vor. Es dauert eine Weile, bis Hans sich beruhigt hat, Herr Wenzel spendiert ihm Taschentücher aus einem seiner Regale, Hans schnäuzt sich laut die Nase. Dann führt Herr Wenzel Hans um die Theke herum in den hinteren Raum. Dort hat er eine Stube mit einem Tisch und zwei Sesseln, die über Eck stehen, einem Spülbecken, einer Kaffeemaschine und einem Fenster mit Gardine zur Straße hin.
»Hier habe ich mit meiner Frau gesessen, wenn grad kein Kunde kam«, sagt er halb zu Hans und halb zu sich selbst, während er Kaffee aufsetzt. »Das ist nun auch schon zwölf Jahre her.« Er lächelt Hans an und setzt sich in den freien Sessel.
Da sitzen sie, und Hans versucht, nicht mehr zu schluchzen, und wundert sich über sich selbst und ahnt, dass er nicht nur Felizias wegen geweint hat. Der Kaffee läuft durch den Filter, Hans mag den säuerlichen Geschmack von Filterkaffee nicht, aber das spielt jetzt keine Rolle, er nimmt die Tasse dankbar an, Herr Wenzel ist kein Feind mehr, der ihm seine Felizia wegnehmen will. Sie trinken den wässrigen Kaffee, Hans dreht den Kopf zur Seite, weil er fürchtet, Felizia versehentlich zu verbrühen, nichts Böses darf diesem Kind mehr widerfahren. Dann stellen sie die Tassen auf die Untertassen, die auf dem Tisch stehen, und Herr Wenzel lehnt sich zurück, aber er ist so gebeugt, dass sein Kopf immer noch ziemlich weit vorgereckt ist. Er lächelt Hans freundlich an. Er hat verstanden, dass er ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen kann. Er hat verstanden, dass beider Leben am gleichen seidenen Faden hängen. Er wird nicht mehr versuchen, Hans dazu zu bewegen, das Kind der Polizei zu übergeben. Er wird niemanden verständigen, wie er es vorhatte, falls Hans sich uneinsichtig zeigen sollte. Er kann es nicht mehr. Er sagt: »Du wirst Hilfe brauchen.«
Es
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