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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Uhly
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einer Welt, in der alles organisiert ist, in der jeder weiß, der Wievielte heute ist. Nur er nicht. Er macht sich keine Kerben ins Gedächtnis, nein, er arbeitet daran, alle Kerben zu löschen, bis nichts mehr übrig bleibt.
    Wo soll das hinführen, denkt er, als er den einzigen Milchkarton, der im Kühlschrank steht, schüttelt und feststellt, dass er leer ist. Dann trinke ich den Kaffee eben schwarz. Hans hasst schwarzen Kaffee. Aber Not macht erfinderisch, denkt er und grinst freudlos. Er setzt die Espressokanne auf den Elektroherd, der übersät ist mit Flecken. Seit Wochen hat Hans ihn nicht mehr geputzt. Neben dem Herd steht ein altes Transistorradio, die Antenne ist auf halber Höhe abgebrochen, aber es funktioniert noch. Hans schaltet es an. Das Erste, was er hört, ist die Uhrzeit – »Zwölf Uhr«, sagt der Sprecher – und das Zweite ist das Datum: »Fünfundzwanzigster Oktober«.
    »Mist!«, entfährt es ihm. Der Weiterbewilligungsantrag! Frau Mohn wartet nur darauf, dass er wieder einmal den Termin verpasst, das weiß Hans sicher. Sie hat ihm schon zweimal einen ganzen Monat gestrichen, nur weil er einen oder zwei Tage zu spät dran war. Er hasst diese Frau.
    Als die Espressokanne röchelt und damit kundtut, dass alles Wasser durchgelaufen ist, greift er in die Spüle, wo sich Geschirr und Besteck türmen, und zieht eine Tasse heraus. Er spült sie kurz mit Wasser aus und schenkt sich den schwarzen Kaffee ein. Er sucht den Zucker, bis ihm einfällt, dass er keinen mehr hat. Dann schlurft er in seinen abgetragenen Pantoffeln ins Wohnzimmer, setzt sich an die Ecke seines Tisches und schaltet den Fernseher ein. Während er den Kaffee trinkt und dabei angewidert das Gesicht verzieht, zappt er sich durch die Programme. Am liebsten schaut er Nachrichten, deshalb bleibt er bei n-tv hängen. Es geht um die Finanzkrise. Der Euro-Rettungsschirm wird noch größer. Hans ist fasziniert von der Finanzkrise. Die horrenden Schuldensummen, von denen immer wieder die Rede ist, beeindrucken ihn sehr, und er stellt sich jedes Mal vor, was wäre, wenn er so viel Geld hätte.
    Aber jetzt hat er keine Ruhe, der Termin drückt, der Weiterbewilligungsantrag muss das heutige Datum im Poststempel tragen, sonst sieht es schlecht aus. Denn Hans hat kaum noch Geld und die Miete muss pünktlich bezahlt werden, sonst rückt ihm Herr Balci, der Hausverwalter, auf die Pelle. Als er den Kaffee endlich ausgetrunken hat, schaltet er den Fernseher wieder aus. Er bleibt reglos sitzen. Das Ausfüllen des Antrags türmt sich wie ein unbesteigbar hoher Berg vor ihm auf, eine Schwäche macht sich in seinem ganzen Körper breit, am liebsten würde Hans wieder ins Bett gehen, am liebsten würde er überhaupt nichts mehr merken. »Heute ist ein guter Tag zum Sterben«, sagt Hans leise zu sich selbst. Im selben Augenblick sieht er Frau Mohns Gesicht vor sich, wie sie zufrieden lächelt, als sie von seinem Tod erfährt. Wütend steht er auf. Allein wegen Frau Mohn würde er nicht sterben. »Vorher bringe ich sie um!«, sagt er laut in den kleinen Raum hinein und lacht kurz auf. Er gesteht sich nicht ein, dass hinter Frau Mohn weitere Gesichter aufgetaucht sind – die seiner Frau und seiner beiden Kinder. Er vergisst schnell, dass er daran gedacht hat, dass sie womöglich jahrelang nichts von seinem Tod erfahren würden. Er will nicht das Gefühl haben, nicht vermisst zu werden, weil er für seine Frau und seine Kinder längst gestorben ist. Er denkt nicht, dass er ein Zombie ist, einer, der gar nicht mehr sterben kann, weil er schon das ganze Leben hinter sich hat. Aber das Wort ist trotzdem da: ein Untoter. Ein lebendig Begrabener. Wovon? Von der eigenen Vergangenheit? Er geht zur Wohnungstür. Da stehen die Müllsäcke. Gut, denkt Hans, bevor ich den Antrag ausfülle, bringe ich den Müll hinunter. Er weiß, dass er den Müll nur vorschiebt, Aber auf diese Weise tue ich wenigstens etwas Nützliches, denkt er.
    Als er, bepackt mit vier Müllsäcken, seine Wohnung verlässt und zum Fahrstuhl geht, begegnet er Herrn Tarsi, dem Nachbarn mit dem steifen Bein. Herr Tarsi putzt ihren gemeinsamen Flur. Selbst dabei sieht er würdevoll aus, ein großer, älterer Mann mit grauem Haar und einem Schnurrbart mit gezwirbelten Enden. Er ist Afghane oder Perser, Hans weiß es nicht genau, es ist ihm auch gleichgültig geworden, seit er ein schlechtes Gewissen hat, weil er vor zwei Monaten einfach aufgehört hat, den Flur zu putzen. Herr Tarsi grüßt Hans so

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