Glückskind (German Edition)
Ich höre damit auf.«
Hans sagt: »Ich mache es.«
Herr Wenzel braucht einen Moment, bis er begreift, was Hans gesagt hat. Dann ruft er: »Das ist großartig, Hans! Großartig!« Er klatscht in die Hände wie ein kleiner Junge und strahlt über das ganze Gesicht.
»Warum ich?«, fragt Hans.
Herr Wenzel hält inne. Er sagt: »Kennst du das Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren?« Hans kennt es. Herr Wenzel sagt: »Ich bin der Fährmann und du löst mich ab.«
Hans lacht. Er sagt: »Aber dann bin ich ja dazu verdammt, deinen Laden zu führen. Ich weiß nicht, wie ich das finden soll.«
Herr Wenzel wackelt mit dem Kopf. Er sagt: »Es ist nicht so tragisch. Es wird deinem Leben eine feste Struktur geben.«
Hans nickt. »Ja«, sagt er, »hin und her, hin und her.«
Herr Wenzel sagt: »Wenn dir die Aussicht nicht gefällt, dann tu es nicht.«
Hans lächelt Herrn Wenzel an. Er sagt: »Doch, die Aussicht gefällt mir sogar sehr gut. Ich werde Geld sparen und im Urlaub mache ich weite Reisen.«
»Wohin?«
Hans überlegt. Er weiß wohin, aber er weiß noch nicht wohin zuerst. Er sagt: »Auf jeden Fall zum Fudschijama. Und dann muss ich herausfinden, ob es ein rotes Gebirge gibt. Dorthin will ich auch.« Er wägt seine Worte ab. Er sagt: »Zuerst fliege ich nach Neuseeland.«
Herr Wenzel lächelt ihn an. Er sagt: »Dahin will ich auch.«
»Was für ein Zufall!«
Sie verabschieden sich. Als Hans über die Straße geht, steckt er die Hände in seine Manteltasche. In der rechten Tasche steckt ein Umschlag. Hans zieht ihn hervor. Er ist vom Arbeitsamt. »Oh!«, macht Hans. Die Antwort von Frau Mohn auf seinen Weiterbewilligungsantrag. Das hatte er vollkommen vergessen. Im Fahrstuhl öffnet er den Umschlag. Frau Mohn macht ihn in knappen Worten darauf aufmerksam, dass dem Antrag auf Weiterbewilligung der finanziellen Unterstützung nach Hartz IV nicht stattgegeben werden kann, weil der Antrag laut Poststempel einen Tag nach Verstreichen der Frist abgeschickt worden ist. Hans lächelt. Auf Frau Mohn ist Verlass. Sie wird ihm jeden Fehler aufzeigen, den er begeht. »Das ist gut«, sagt er in den engen Fahrstuhl hinein. »Sehr gut ist das.« Vielleicht besuche ich sie mal, denkt er.
Dann kommt er an.
Epilog
Einen Monat nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft wird Hans Herrn Wenzels Lotto-Toto-Geschäft zum symbolischen Preis von einem Euro übernehmen. Danach wird Herr Wenzel seine Weltreise vorbereiten. Hans wird jeden Morgen außer sonntags um sieben Uhr an der Theke stehen. Er wird freundlich lächeln, wenn Kinder mühsam ihr Geld zählen und versuchen, so viele Süßigkeiten wie möglich dafür zu bekommen. Er wird jeden Vormittag Besuch von Frau Tarsi bekommen, die ihm eine Thermoskanne mit Tee vorbeibringt. Bei schönem Wetter werden sie draußen auf dem Schaufenstersims sitzen und sich unterhalten oder einfach nichts tun. Hans wird oft mit den Tarsis essen, manchmal bei sich zu Hause, meistens bei den Nachbarn. Eines Tages wird Arthur in sein Geschäft kommen, um ein Musikmagazin zu kaufen. Hans wird ihn »König Arthur« nennen. Arthur wird erschrecken. Dann wird er sich für seinen Verrat entschuldigen. Er wird sagen, seine Mutter habe ihn unter Druck gesetzt. Hans wird abwinken und ihm das Musikmagazin schenken. Er wird noch einmal zu Anne in der Nummer 28 fahren und sie anflehen, ihm wenigstens eine Telefonnummer zu geben. Anne wird nicht lange standhalten. Sie wird ihm eine Telefonnummer und eine Adresse in Neuseeland aufschreiben. Aber dann wird sie Hans fragen, was zwischen ihm und ihrer Mutter war. Hans wird die Wahrheit sagen. Er wird sich entschuldigen, Anne wird weinen und ihn bitten zu gehen. Hans wird seine Tochter Hanna nicht anrufen. Er wird bis zum folgenden Winter arbeiten und dann ein Flugticket nach Neuseeland kaufen.
Vier Jahre später wird Veronika Kelber in Hans’ Lotto-Toto-Geschäft kommen. Sie wird ihre Kinder bei sich haben. Sie werden einander erkennen. Und dann wird sich wieder alles ändern. Aber noch ist nichts davon geschehen, und deshalb kann es auch nicht erzählt werden.
Erste Auflage
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Titelfoto: Helga Grüner
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