Glückskind (German Edition)
Tränen wieder, Hans weint stoisch, ohne sich zu bewegen, das schreiende Baby hält er fest im Arm. Er kommt oben an, Herr Tarsi ist verschwunden und hat einen sauberen Flur hinterlassen. Endlich ist Hans in seiner Wohnung angekommen. Er legt das Kind vorsichtig auf den Küchentisch. »Es geht ganz schnell, ganz schnell«, flüstert er ihm zu. Er überfliegt die Anleitung. Wasser erhitzen. Er kramt einen schmutzigen Topf aus dem Spülbecken hervor. Das macht einen Höllenlärm, weil sein Geschirrberg in sich zusammenfällt. Es ist kein Spülmittel da, deshalb schrubbt Hans den Topf mit heißem Wasser ab, dann stellt er ihn auf den Herd und erhitzt Wasser. Es muss kochen, sagt er sich, schon allein, weil hier alles schmutzig ist. Er sitzt auf dem Stuhl, auf dem er immer sitzt, das Baby im Arm, und wartet. »Es geht ganz schnell«, sagt er wieder, »du wirst schon sehen.« Aber es geht zu langsam, das Kind schreit jetzt noch schwächer, es öffnet die Augen gar nicht mehr, seine Bewegungen werden langsamer, Hans bekommt Angst. Er steckt den Finger ins Wasser, es ist noch nicht einmal heiß. »Das muss genügen«, sagt er laut. Er stellt die Herdplatte ab und bereitet die Milch im Topf zu. Dann fällt ihm auf, dass er keine Babyflasche hat. Verzweiflung breitet sich in seinem Körper aus wie eine große Schwäche, es ist dieselbe Schwäche, die er fühlt, wenn er an den Weiterbewilligungsantrag denkt. Aber der erscheint ihm jetzt wie eine Kleinigkeit. »Was mach ich nur, was mach ich nur?«, jammert er. Da fällt ihm ein, dass er irgendwo einen Schnuller hat. Er gehörte seinem Sohn, als der ein Baby war, wie lange ist das her? »Eine Ewigkeit«, murmelt Hans und rennt mit dem Kind im Arm ins Wohnzimmer. Er legt es auf den staubigen Boden und kramt in der Kommode, auf der der Fernseher steht. Da ist er, ein uralter Schnuller. Ohne zu zögern, reißt Hans das Gummistück aus dem Plastikrahmen heraus und schneidet das Mundstück vom Fuß ab. Erleichtert stellt er fest, dass er sich richtig erinnert hat: Das Mundstück ist hohl. Eine Nadel, jetzt braucht er eine, aber er besitzt kein Nähzeug. Doch er hat einen schwarzen Kamm mit einem dünnen Griff aus Metall, so dünn, dass man ihn kaum festhalten kann. Am Ende läuft er spitz zu. Damit macht Hans ein Loch in die Spitze des Mundstücks. Das Baby schreit jetzt etwas lauter, etwas verzweifelter. Hastig kehrt Hans ins Wohnzimmer zurück. Sein Blick fällt auf den Wäschekorb, der in einer Ecke neben dem Fernseher steht. Er ist voller leerer Bierflaschen. Hans nimmt eine Flasche heraus, spült sie heiß aus, schüttet die Babymilch hinein. Das Mundstück passt drauf, aber er muss es abdichten. Er nimmt Tesafilm und umwickelt Flaschenhals und Schnuller so oft, bis er glaubt, dass es halten wird. Dann nimmt er vorsichtig das Baby und hält ihm die Flasche hin. Das Baby schreit, es reagiert nicht auf den Kontakt. »Du rechnest gar nicht mehr damit, nicht wahr, Kleiner?«, sagt Hans. »Das versteh ich gut«, sagt er, »aber jetzt ist alles anders, du wirst schon sehen.« Immer wieder schiebt Hans dem Kind den Schnuller in den Mund. Endlich versteht das Baby. Es saugt sich fest und trinkt. Doch sehr bald kommt aus der Flasche nichts mehr heraus, denn Hans hat vergessen, ein zweites Loch zu stechen, durch das Luft nachströmen kann. Er zerrt an dem Tesafilm, bis eine kleine Öffnung entsteht. Jetzt funktioniert es, das Baby trinkt. Gleichzeitig sickert Milch heraus, aber das macht nichts. Das Kind trinkt. Es trinkt, bis es nicht mehr kann, und schläft sofort ein, der Schnuller steckt noch in seinem Mund. Die Milch, die herausgesickert ist, hat die Decke, in die das Kind eingewickelt ist, durchnässt. Hans wickelt das Kind aus und sieht, dass es keine Windel trägt. Es war nicht feucht vom Müll, sondern von seinem eigenen Urin. Der Anblick des winzigen Wesens treibt Hans erneut Tränen in die Augen. »Es ist ein Mädchen«, flüstert er und lächelt durch die Tränen hindurch. Ich nenne dich Felizia, ja, du sollst Felizia heißen, denn du hast heute sehr viel Glück gehabt. Behutsam trägt Hans Felizia ins Badezimmer. Aus dem Wäschehaufen, der dort auf dem Boden liegt, kramt er ein Handtuch hervor. Es riecht muffig, aber das spielt keine Rolle. Hans wickelt Felizia in das Handtuch, dann trägt er sie ins Schlafzimmer, legt sie ins Bett und deckt sie zu. »Jetzt aber schnell«, murmelt er. Er zieht sich den Mantel wieder an, vergewissert sich, dass sein Portemonnaie in der
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