Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
eh und je haben ihn alle um seine Sammlung beneidet. Inzwischen ist die Qualität seiner Figuren einmalig. Er ist sozusagen der Zinnsoldatexperte. Ständig wird er von Bekannten um Stücke gebeten. In Zeiten des Onlinehandels könnte er mit dieser Handarbeit ein kleines Vermögen machen. Und das mit purem Vergnügen. eBay, Facebook, Xing – innerhalb eines Tages stünde ihm die Welt offen, eine Riesenchance, nach einiger Zeit mit Freude mehr zu verdienen als jemals zuvor in seinem Leben. Doch statt seine Armeen in Marsch zu setzen, stellt er sie in den Schrank. Und kassiert Hartz IV.
Ich habe ihn nach dem Grund gefragt. »Warum nicht?«, war seine Antwort. »Das ist mein gutes Recht. Schließlich hab ich 25 Jahre lang eingezahlt.«
Menschen entscheiden sich konsequent und trotzig gegen die Chance. Sie sehen sie nicht, weil sie nicht danach suchen. Sie hoffen lieber, sie planen lieber. Oder sie entscheiden sich dafür, den ganzen Stress mit den Chancen ein für allemal abzuhaken.
Das geht doch nicht!
Kyle McDonald hatte keine Hoffnungen. Er hatte auch keinen Geschäftsplan, ja er hatte nicht einmal eine Geschäftsidee, als er in seiner Einzimmerbude saß und langsam eine rote Büroklammer zwischen Daumen und Zeigefinder drehte. Außer einem speckigen Laptop besaß er nicht viel, was deutlich mehr wert gewesen wäre als das gebogenes Stück Kupferdraht mit Weichplastik-Überzug. Was Kyle aber hatte, war ein Gedanke: Ein Tausch von zwei unterschiedlichen |27| Gegenständen kann für beide Seiten ein lohnendes Geschäft sein. Tauscht man den eingetauschten Gegenstand wiederum mit einem guten Geschäft ein, erhöht sich der erzielte Wert ein weiteres Mal. Und wenn man dann weitertauscht? Und weiter und weiter und weiter? Wie oft muss man diese schlichte rote Büroklammer »hochtauschen«, bis daraus ein Haus geworden ist? Hm. Ausprobieren!
»Tausche Büroklammer gegen Haus.« Diese Idee bloggte er kurzerhand auf oneredpaperclip.blogspot.com. Der Gedanke war in der Welt. Dann ging alles überraschend schnell.
Die Büroklammer tauschte er gegen einen fischförmigen Stift. Den gegen einen Türknauf aus Keramik. Bald besaß er eine Instant-Party – ein leeres Fass Bier, Gutschein für eine Füllung und Budweiser-Leuchtreklame. »One red paperclip« wurde so rasend schnell so berühmt, dass sich Prominente darum schlugen, mit Kyle zu tauschen. Radiomoderator Michel Barrette tauschte das Fass Bier gegen seinen Motorschlitten. Schockrocker Alice Cooper einen Nachmittag mit sich selbst. Der US-Schauspieler Corbin Bernsen vermittelte eine Filmrolle. Und die Stadt Kipling veranstaltete im September ein Casting für eben diesen Film.
Diese Werbung war der Stadt ein Haus wert. Nach genau einem Jahr seit dem Start der Tauschaktion war der Handel perfekt: Am 12. Juli 2006 fand die Schlüsselübergabe statt. In Kipling Saskatchewan, Hauptstraße 3 – gut 3 200 Kilometer westlich von Montreal, wo Kyle bis jetzt gewohnt hatte. Als erstes wurde das Haus nun rot gestrichen. So rot wie die Büroklammer, mit der alles angefangen hatte. Kyle: »Fragt mich bitte nicht, warum. Das muss wohl einfach sein.« Und auch auf die Frage der BBC, wie er so viel internationale Aufmerksamkeit für seine Aktion erreichen konnte, antwortete Kyle mit der reinen Wahrheit: »Ich habe absolut keine Ahnung.«
Dieser Mann hat zweifellos eine Chance genutzt. Hatte er das geplant? Nein, er war einfach nur herzerfrischend naiv. Und die reine Schönheit seiner Idee war so selten und außergewöhnlich, dass sie von der ganzen Welt belohnt wurde. Aber die meisten Menschen, zumindest die, die ich kenne, haben so gut wie nie schöne Ideen, denn sie haben irgendwann in ihrem Leben ihre Naivität verloren, |28| sie wurde stillgelegt, aufgegeben, eingemottet und ersetzt durch: Wissen. Brav gelernt in Kindergarten, Schule und im Elternhaus, an der Uni und im ersten Job. Statt herzerfrischenden Ideen haben sie die beruhigende Gewissheit, aus welchem Grund etwas nicht funktionieren kann.
Wir sind Studenten des Misserfolgs geworden.
Wir sind Studenten des Misserfolgs geworden. Wir studieren, warum etwas nicht geht, sehen die Möglichkeiten nie ohne unsere Meinung darüber – und die ist meistens nicht positiv. Mein Ex-Steuerberater war so einer. Immer, wenn ich ihn bezüglicher neuer Projekte fragte, ob diese funktionieren würden, meinte er: Das geht nicht! Ich fragte ihn dann mal, warum seiner Meinung nach alles nicht geht. Er meinte, er hätte das studiert.
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