Glutopfer. Thriller

Die Haut an seiner Brust beginnt zu schmelzen. Der Schmerz ist unerträglich.
    Er schreit.
    Und schreit.
    Mit aller verfügbaren Kraft beginnt er, sich vor und zurück zu wiegen, worauf ein Bruchteil der Muskelkontrolle wiederkehrt. Sobald er genügend Schwung gesammelt hat, rollt er sich in die Öffnung, fällt die Treppe hinunter und schlägt hart auf dem kleinen Absatz auf.
    Gleich darauf ist Sam zur Stelle, dreht ihn um, trampelt die Flammen aus. Schreit nach Sanitätern.
    Schwach weist Daniel mit dem Kinn auf die Klappe.
    »Sperr ihn ein.«
    Sam springt auf, klettert die Treppe hinauf, zieht die Klappe herunter, verriegelt sie und schließt das Monster in seinem flammenden Schicksal ein.
    Als sie wieder bei Daniel ist, beruhigt sie ihn und schreit weiter nach Hilfe.
    Noch bevor die Sanitäter kommen hören sie das Bersten von Glas und Schreie, und als sie sich umdrehen, sehen sie, dass Brian Katz im Bogen wie eine Leuchtrakete siebzig Meter in den Tod stürzt, und dass sein Körper noch immer brennt, als er auf die Erde aufschlägt.

60
    Schock.
    Verbrennungsklinik.
    Schmerz.
    Schmerztherapie.
    Infektion.
    Infusionen.
    Hauttransplantation.
    Verbände.
    Zeit.
    Gesundung.
    »Ist er wirklich tot?«, fragt Daniel.
    »Tot, verbrannt, begraben«, sagt Sam.
    Sie ist zum vorletzten Mal in das Krankenzimmer gekommen. Morgen wird Daniel entlassen, um zu Hause gesund zu werden.
    Er blickt auf seine vernarbte, entstellte Brust.
    »Für mich wird er niemals tot sein«, sagt er. »Das hat er ein für alle Mal geschafft.«
    »Du hast ihn erledigt. Du hast den Drachen erschlagen. Du hast Ben und viele zukünftige Opfer gerettet.«
    Wieder betrachtet er seine unförmige Brust.
    »Jetzt siehst du aus wie ich«, sagt sie.
    Er blickt zu ihr auf, zwinkert mit feuchten Augen.
    »Ja, nicht wahr?«
    »Wir sind Zwillinge.«
    »Du sagst so liebe Sachen.«
    »Ich kann es gar nicht erwarten, dass es dir besser geht und unsere Narben sich lieben können.«
    Es ist kühler jetzt, wo der Herbst richtig da ist.
    In diesen Tagen knirschen beim Laufen nicht nur der Schotter, sondern auch Herbstblätter unter den Schuhen.
    Samstagmorgen im November, ein kühler, klarer, strahlender Tag. Sam ist inzwischen der Dienststelle in Tallahassee zugeteilt, Daniel unterrichtet wieder oder berät, die beiden sind unzertrennlich.
    »Der Herbst ist meine liebste Jahreszeit«, sagt Sam.
    Daniel nickt.
    »Meine auch.«
    Die Grüntöne des North Florida Wildlife Preserve verwandeln sich allmählich in Braun, Orange und Gold.
    »Okay, Mr Superhirn«, sagt sie. »Von wem ist Folgendes: ›Das erste Grün in der Natur ist Gold‹?«
    Er zuckt mit den Schultern.
    »Whitman?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Frost, aber er hätte schreiben sollen, ›Das erste Gelb im Herbst ist Gold‹.«
    »Klingt aber nicht so gut.«
    Daniel läuft inzwischen nicht mehr dem Tod davon, sondern dem Leben entgegen, und muss in letzter Zeit ständig lächeln – warum auch nicht? Er hat seinen Freund gerettet, den Drachen erschlagen, die Frau erobert.
    »Und du meinst, Ben hat nichts dagegen, wenn ich seinen Platz beim Laufen einnehme?«, fragt Sam.
    »Soll das ein Witz sein? Er hat gesagt, er schickt dir Blumen.«
    Im Moment müssen sie keine Monster jagen, nur einander.
    »Was dagegen, wenn wir Thanksgiving zu meiner Mutter fahren?«
    »Natürlich nicht«, sagt er.
    »Unser erstes gemeinsames.«
    »Das erste von vielen.«
    »Und Weihnachten sollten wir wegfahren, nur wir zwei.«
    Er lächelt.
    »Was?«, fragt sie und lächelt zurück.
    »Mir gefällt einfach, wie du denkst.«
    »Dir gefällt auch, wie ich ein paar andere Sachen mache«, sagt sie.
    »Ich dachte, wir kürzen das Laufen ab, gehen heim und wenden uns diesen anderen Sachen zu.«
    Sie lächelt.
    »Was?«
    »Mir gefällt auch, wie du denkst.«

Über Michael Lister

    Michael Lister wuchs im Nordwesten Floridas auf, wo er heute noch lebt. Er hat sich als Autor von Romanen, Essays, Theaterstücken und Drehbüchern einen Namen gemacht. Wenn er nicht schreibt, studiert er Literatur, Film und Theologie und unterrichtet am Gulf Coast Community College. Sein Roman
Selbstauslöser
(Hoffmann und Campe, 2011 ) wurde mit dem Florida Book Award ausgezeichnet.
    Mehr Informationen unter: www.michaellister.com

Impressum

    Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Burnt Offerings
bei Pulpwood Press, Panama City, Florida.
     
    Copyright © 2012 by Michael Lister
    Für die deutschsprachige Ausgabe
    Copyright © 2013 by Hoffmann und