Gnade
war.
Er sagte: »Du bist wie immer, Alice.«
Sie sah ihn forschend an.
»Das kann man von dir nicht sagen, Johan. Du siehst hässlich aus.«
»Es ist immer schön, deine Stimme zu hören. Ich habe dich vermisst.«
»Ich habe dich nicht vermisst.«
»Nein? Das hätte ich nicht gedacht. Wen beschimpfst du jetzt, Alice? Den Herrgott vielleicht?«
Sie antwortete nicht. Johan fuhr fort:
»Unser Sohn wird Vater. Wusstest du das?«
»Ich wusste es.«
»Höchste Zeit, finde ich. Er ist über vierzig.«
»Er ist dreiundvierzig.«
Johan sah sie an. Ihre Hände, die Finger mit den angeknabberten, lackierten Nägeln. Ihr Pferdegesicht. Von allen Geistern, die sich auf seiner Bettkante niederlassen konnten â weshalb musste ausgerechnet sie es sein? Warum nicht sein alter verstorbener Freund Ole Torjussen? Oder eine Berühmtheit? Oscar Mathisen, zum Beispiel? Oder Strindberg?
Sie unterbrach seinen Gedankenstrom, flüsterte:
»Wird er dich beerben, Johan?«
»Was um Himmels willen ...«
Sie betrachtete ihre Nägel.
»Du brauchst dich nicht aufzuregen, ich will nur sichergehen, dass Andreas das Geld erbt. Ich will nicht, dass das Geld, das im Prinzip mir gehört hat, an deine neue Frau geht. Ich habe es geerbt. Es war das Geld meines Vaters.«
»Das Geld liegt auf einem Konto, Alice. Ich habe keine Ãre angerührt.«
»150 000 Kronen plus die Zinsen von zwanzig Jahren.«
»Ja, in etwa.«
»Das ist viel Geld.«
»Und alles geht an Andreas. Das versichere ich dir.«
»Ich vertraue dir nicht.«
»Das hast du nie getan.«
»Und mit gutem Grund.«
Johan stöhnte.
»Du bist nicht mehr unter uns, Alice!«
Er rappelte sich mühsam auf und schrie.
»Du bist nicht mehr unter uns! Du bist seit zwanzig Jahren nicht mehr unter uns! Du kannst doch nicht den ganzen Weg aus deiner Welt in meine gekommen sein, um mit mir über Geld zu streiten! Das ist zu ... kleinlich.«
Sie sagte: »Du bist nun so gut wie in meiner Welt, Johan.«
»Geh weg!«
Sie machte einen Schmollmund.
»Armer kleiner Johan.«
Er ahmte ihre Stimme nach: »Armer kleiner Johan. Armer kleiner Johan.«
Die Tränen bahnten sich einen Weg und er warf ein Kissen an die Wand.
»Geh weg, sage ich! Geh weg! Lass mich in Ruhe!«
»Liebster Johan. Kein Grund, eine Szene zu machen.« Sie sah ihn forschend an, beugte sich näher zu ihm herüber, flüsterte: »Was hast du denn da auf der Wange? Ein Geschwür? Unangenehm, finde ich. Als wärt ihr zu zweit.«
»Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen, Alice?«
»WeiÃt du noch, dass du gesagt hast, falls ich in den Himmel käme, wolltest du lieber in die Hölle? Dann bräuchten wir die Ewigkeit nicht miteinander zu verbringen.«
Johan nickte.
»Bist du denn in den Himmel gekommen?«
Alice sagte: »Es gibt nichts, worauf du dich freuen könntest. Keinen Himmel, keine Hölle. Nur den Tod, oder etwas noch Schlimmeres.«
Johan summte:
Vielleicht steht der Tod schon da und lauert
hinter zackigen Korallen â
er ist hart, aber ehrlich,
also sing he und ho.
Der Mann hinter dem Paravent hustete. Es war niemand anders im Raum. Wo war Mai? Warum kam Mai nicht? Wie spät war es? Johan wollte sich umdrehen und zu dem Mann hinter dem Paravent etwas sagen, aber dann hörte er wieder ihre Stimme. Sie ging ihm nicht aus dem Kopf, trällerte, summte und klagte. »Warum hast du mich ins Wasser gestoÃen, Johan? Du wusstest, dass ich nicht schwimmen konnte.« Alice sah ihn eindringlich an.
»Warum?«
Er überlegte. Zum Schluss sagte er:
»Es kam mir vor wie das Natürlichste der Welt, Alice. Du hast auf der Anlegerkante gestanden, und es war ganz offensichtlich, dass du ins Wasser musstest.«
Â
Als Mai am späten Vormittag kam, fühlte Johan sich besser. Er saà im Bett, nachdem er im Morgengrauen endlich etwas Schlaf gefunden hatte.
Heute trug sie ein Kleid, das er noch nie gesehen hatte. Eng über den Brüsten und in der Taille und weit von der Hüfte abwärts. Ein hübsches rotes Kleid, aber ein bisschen jugendlich, vielleicht. Sie war schlieÃlich über fünfzig.
»Neues Kleid, Mai?«
»Nein«, sagte sie und setzte sich auf die Bettkante. Sie fummelte an einem Ãrmel herum, lachte ihm zu. »Ich habe es auf dem Boden
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