Gnade
ihn â bei dieser Bewegung raschelt ihre Bluse â legt ein Ohr auf seine Brust. Gut! Das warâs. Sie zieht sich zurück.
Exakt drei Wochen vorher: Johan schlieÃt die Augen und denkt, Mais Haare riechen gut. Er sieht sie vor sich vor dem Spiegel, das Gleiten der Bürste durch ihre Haare. Eins-zwei-drei-vier-fünf ...
Wenn er sich im Bett aufsetzte, wenn er es nur schaffte, sich aufzusetzen, würde er einen Schimmer von Mutters Haaren hinter der Küchentür erkennen. Er würde ihre Stimme hören. Die Lieder, die sie gerne gesummt hat. Vor allem das eine. Das einfältige kleine Lied, das sie noch liebend gerne sang, als alle anderen es schon vergessen hatten.
All das Schöne, was mich in Träumen neckt,
hab ich in meinem Herzen versteckt.
Es gibt ein Bild vom Glück,
das alles überdeckt
in meiner kleinen, kleinen Welt aus Blumen ...
»Erinnerst du dich an unsere Spaziergänge, Mutter?«
»Klar tu ich das.«
Sie saà auf der Bettkante und sah ihn mit besorgtem Gesicht an, wie damals, als er klein war und Fieber hatte und von der Schule zu Hause bleiben musste. Sie trug ein blaues Kleid und beigefarbene Halbschuhe. Ihre langen dunklen Haare hingen ihr in einem Zopf auf dem Rücken.
»Kannst du mir die Hand auf die Stirn legen, Mutter?« Sie schüttelte den Kopf.
Er war in jenem Sommer nicht älter als fünf oder sechs. Es muss neununddreiÃig gewesen sein. Die Familie hatte ein Haus auf dem Land gemietet. Und jeden Tag gingen Johan und seine Mutter auf die Suche nach Walderdbeeren.
Sie ging voran und er hinterher. Sie hatten jeder einen weiÃen Eimer in der Hand.
Mutter war ein langer brauner Zopf, der auf dem Rücken hing, ein dünnes weiÃes Baumwollkleid und ein Po, der beim Gehen von einer Seite zur anderen schwang.
Ja, so war es.
»Du hattest einen langen braunen Zopf und ein dünnes weiÃes Kleid?«, sagte Johan laut.
Er sah auf.
Seine Mutter saà immer noch auf der Bettkante, sie lächelte.
»Und eines Tages ging jeder von uns seinen eigenen Weg«, sagte Johan.
Der kleine Knirps, der kleine Johan, erblickte eine Lichtung im Wald und stapfte drauflos, weg vom Weg, weg von der Mutter. Und dort, auf der Lichtung, zwischen Moos und Zweigen, unter einem groÃen Baum, fand er die Walderdbeeren. Zuerst erblickte er eine groÃe rote, dann noch eine, und als er sich bückte und nachschaute, sah er, dass es ganz viele von ihnen gab. Richtig viele. Er konnte den ganzen Eimer füllen.
Johan drehte sich um und hielt nach ihr Ausschau. Er wollte ihr die Stelle zeigen.
Es war immer Mutter, die die Stellen mit den Erdbeeren fand. Niemals er. Bis heute. Und jedes Mal, wenn die Mutter die Stelle mit den Erdbeeren fand, winkte sie ihn zu sich, legte den Zeigefinger auf den Mund, damit er ganz still war. Als könnte ein lautes Geräusch oder eine unbedachte Bewegung die Walderdbeeren direkt vor seinen Augen in Klee und Flechten verwandeln. Es war fast so, als dürfte man nicht einmal blinzeln.
»Solche Stellen gibt es eigentlich gar nicht«, flüsterte sie. »Am besten pflückt man sie ab, bevor sie verschwinden. Lass sie nicht aus den Augen.«
Er lag auf den Knien im Moos und pflückte und pflückte und ab und zu drehte er sich um, um nach ihr Ausschau zu halten.
Wo war sie?
Er traute sich nicht, nach ihr zu rufen, solange der Eimer nicht voll war.
Sie würde stolz auf ihn sein.
Er, der kleine Johan, war im Begriff, genügend Beeren für die ganze Familie zu pflücken.
Er drehte sich noch einmal um. Warum kam sie nicht? Warum merkte sie nicht, dass er eine dieser Stellen gefunden hatte, eine dieser Stellen, an denen man ganz, ganz leise sein musste, damit sie nicht kaputtgingen? Man musste die Stelle überlisten, so tun, als würde
man sie nicht sehen, als würde man sie nicht berühren: als wäre man überhaupt nicht da. Und Johan lag im Moos und pflückte und pflückte, und bei jeder Beere, die er in seinen Eimer legte, und jedes Mal, wenn er sich umdrehte und Ausschau nach der Mutter hielt (und einmal rief er sogar nach ihr, ganz leise, aber dennoch. M-u-t-t-e-r! M-u-t-t-e-r! Ganz leise, denn die Stelle hört alles), und jedes Mal, wenn er die Hand nach mehr ausstreckte â ja, nach noch mehr! â, erwartete er, dass sich die Stelle vor seinen Augen rächte und sich in einen wogenden grauen Sumpf voller Ungeheuer verwandelte. Johan
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