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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Schumann, wenn er Musik komponierte, die ihn und Clara und Mai und Johan und alle Menschen überleben würde? War er nicht auch Schumann, im höchsten Maße Schumann, als er in einer Heilanstalt in Endenich saß oder lag oder herumlief und nicht einen einzigen Ton herausbekommen konnte? Nur mit dieser Musik, die ihm nicht aus dem Kopf ging? »Ach, wenn ich Euch noch einmal sehen
könnte«, schrieb er in seinem letzten Brief aus dem Krankenhaus, »noch einmal mit Euch reden könnte. Aber der Weg ist so weit.«
    Lange Zeit strich Johan jeden einzelnen Tag im Kalender an. Er wollte wissen, ob es Montag oder Dienstag oder Mittwoch oder Donnerstag oder Freitag war. Er wollte wissen, ob es draußen warm oder kalt war. Der August war in Norwegen ein Sommer – und ein Herbstmonat zugleich, je nach Temperatur. Deshalb fragte er die Krankenschwestern jeden Tag, wie das Wetter sei.
    Es war ein Donnerstag oder Freitag. Ganz sicher ein Donnerstag oder Freitag. Heute sollte Andreas kommen, zusammen mit seiner schwangeren Freundin Ellen. Das hatte Mai gestern verkündet, oder vielleicht vorgestern.
    Johan hielt die Tage nicht länger auseinander, er hatte vergessen, sie anzustreichen. Es war warm oder kalt. Er hatte nicht gefragt. Das hatte er auch vergessen. Aber die netteste, jüngste und bei weitem hübscheste Krankenschwester, die langhaarige blonde Malin, erzählte ihm, dass es draußen warm sei.
    Diese Malin setzte sich nämlich auf seine Bettkante und erzählte ihm, es sei warm. Am Morgen habe sie drei Pullover übereinander gezogen, weil sie glaubte, es sei kalt. Aber dann, auf dem Weg zur Arbeit, erzählte sie, habe sie die Pullover wieder ausgezogen. Erst den einen, dann den zweiten und dann den
dritten. Es war ganz einfach so warm, dass sie nicht mehr als einen dünnen Baumwollpulli brauchte.
    Sie lächelte ihm zu. Die bei weitem hübscheste Krankenschwester in diesem Krankenhaus lächelte ihm zu. Und ihr Lachen war wie frisches kaltes Wasser. Davon wollte er trinken.
    Johan lag im Bett und sah das Ganze vor sich. Ging sie zu Fuß zur Arbeit? Begann sie mitten auf einer Kreuzung, alle ihre Pullover auszuziehen? Oder nahm sie die Straßenbahn? Offenbarungen dieser Art ereigneten sich nie, wenn er Straßenbahn fuhr.
    Es war also ein Donnerstag oder Freitag. Oder beides. Konnte es gleichzeitig Donnerstag und Freitag sein? Johan wandte sich an seinen Nachbarn hinter dem Paravent und rief.
    Â»Hallo, Sie, welchen Tag haben wir heute?«
    Er hörte, wie sich der andere bewegte, hörte, wie er die Worte zu schrecklich, das ist zu schrecklich murmelte. Johan räusperte sich.
    Â»Entschuldigung«, flüsterte er. »Mein Sohn kommt. Ich wollte wissen, welchen Tag wir heute haben. Ich wollte nicht, dass er den Eindruck bekommt, ich sei nicht ganz klar im Kopf. Verzeihen Sie mir. Ich habe Sie gestört.«
    Â»Es ist Samstag«, murmelte der Nachbar.
    Â»Danke.«
    Der Mann hustete.
    Â»Danke sehr«, wiederholte Johan.

    Am gleichen Tag kam Andreas. Plötzlich stand er in der Tür und sah erstaunt aus. Johan versuchte sich aufzusetzen. Das Eitergeschwür war frisch bandagiert worden, um sie nicht zu erschrecken, wenn sie kamen. Malin hatte es besonders schön bandagiert, behauptete sie. Und jetzt stand er da. Sein Sohn. »Dich habe ich seit acht Jahren nicht gesehen«, sagte Johan und ihm traten die Tränen in die Augen. Er wollte nicht, dass ihm die Tränen kamen. Tränen waren Theater. Schlechtes Theater.
    Andreas nickte und trat ins Zimmer, gefolgt von Mai und einer jungen rothaarigen Frau, die ihm als die Freundin Ellen vorgestellt wurde. Der schwangere Bauch der Freundin wurde ebenfalls vorgestellt.
    Â»Es ist ein Mädchen«, sagte Ellen. »Wir wissen, dass es ein Mädchen wird. Der Termin war gestern«, fuhr sie fort und lachte. »Ich laufe durch die Gegend und warte.« Sie wiegte ihren Körper hin und her. »Watschele und warte«, fügte sie hinzu.
    Â»Ich auch«, sagte Johan leise. »Ich watschele nicht, aber ich warte auch, ebenso wie Sie.«
    Sie schaute ihn an. Sie verstand nicht. Sie wollte erklären. So war Ellen, dachte er. Eine, die selten verstand, aber oft erklären wollte.
    Â»Ich will sagen, dass ich das Kind gestern hätte zur Welt bringen sollen«, sagte sie. »Ich bin schon über der Zeit ... das wollte ich sagen, als ich von watscheln und warten

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