Schwelbrand
EINS
Es war die Jahreszeit der Stille und des Besinnens, der Vorfreude auf das große Fest der Christenheit. Rund um den Erdball freuten sich Milliarden von Menschen auf das Weihnachtsfest. Und wer seine spirituelle Erfüllung nicht im Christentum fand, mischte mit beim Kommerz, der sich schon seit Langem das Fest untergeordnet hatte. Die Andacht der Vorweihnachtszeit war allgemeiner Hektik gewichen. Es galt, die Vorbereitungen für das Fest zu treffen, Geschenke zu beschaffen, die Wohnung herzurichten, für das Besondere zu sorgen, das in diesen Tagen auf den Tisch kommen sollte. Nur wenige Menschen konnten oder wollten sich dem entziehen, insbesondere nicht, wenn Kinder zur Familie gehörten. Es war ein oft gehörter Vorwand, man mühe sich nur für die Kinder ab.
Das interessierte Jörg Asmussen nicht. Natürlich standen die beiden Söhne im Mittelpunkt der Festvorbereitungen, selbst wenn sie mit zwölf und acht Jahren nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubten und die christliche Grundlage des Weihnachtsfestes und die damit verbundenen Gebräuche wie den gemeinsamen Gottesdienstbesuch eher als lästige Pflichtübung betrachteten. Trotz allen Stresses in der Vorweihnachtszeit wollte Jörg Asmussen die lieb gewonnenen Gepflogenheiten zum Fest nicht missen, auch wenn Rieke, seine Frau, die Hauptlast der Vorbereitungen zu tragen hatte.
»Nächstes Jahr machen wir diesen Wahnsinn nicht mehr mit«, beteuerte Rieke immer wieder erneut, wenn sie an den letzten Tagen vor Weihnachten erschöpft den kurzen Feierabend genoss. Jörg Asmussen nickte nur. Er kannte seine Frau, mit der er über fünfzehn Jahre verheiratet war, gut. Es war eine Liebe, die sich aus den Kindheitstagen hinübergerettet hatte. Niemand, schon gar nicht er, dürfte es wagen, an den eingefahrenen Ritualen der Familie zu rütteln. Die Kinder wollten es nicht. Ihre Eltern investierten viel in die Zufriedenheit der Söhne, selbst wenn es schwerfiel, die Ansprüche des Nachwuchses zu befriedigen.
Jörg Asmussen war nach Dienstschluss ins Stadtzentrum gegangen. Husum, seine Geburtsstadt, hatte sich wieder einmal als Magnet für zahlreiche Besucher von nah und fern erwiesen. Die quirlige Innenstadt mit ihrem festlichen Weihnachtsschmuck strahlte ein besonderes Ambiente aus. Hier im Norden wurde es in der Woche vor dem ersten Advent schon früh dunkel. Die lange Dämmerung brach bereits am Nachmittag an, und gegen sechzehn Uhr war die Sonne untergegangen. Wer Zeit und Muße fand, sich an den weihnachtlich geschmückten Häuserfronten und Schaufenstern zu erfreuen, die Adventsbeleuchtung im Schlossgang zu genießen, der mochte seine Freude an der Vorweihnachtszeit haben. Jörg Asmussen hatte keinen Blick dafür, weder für die Tanne mit der Weihnachtsbeleuchtung auf dem Marktplatz beim Tinebrunnen noch für die Buden des Weihnachtsmarktes vor der Marienkirche. Er hatte eilig eine Bratwurst hinuntergeschlungen. Das hatte er sich nicht nehmen lassen. Dafür verzichtete er auf das Brötchen mit Burgunderbraten, das er beim Stand vor dem Husumer Kaufhaus, dem ehemaligen Hertiegebäude, sonst verzehrte.
Denn heute war alles anders gewesen. Rieke hatte ihm einen Einkaufszettel mitgegeben. Seine Gelassenheit, der leichte Spott über Riekes Stöhnen wegen der vorweihnachtlichen Belastungen waren schon bald einem Groll gewichen, als er sich in den überfüllten Geschäften mit anderen ebenso gestressten Kunden um das rare Verkaufspersonal stritt, das von mehreren Seiten gleichzeitig mit Fragen und Wünschen bestürmt wurde. Natürlich war der Donnerstag ein bevorzugter Abend zum Einkaufen. Asmussen hatte es gewusst. Trotzdem hatte er ausgerechnet heute den Weg in die Innenstadt gesucht.
Er war nicht erfolgreich gewesen. Mit Ausnahme der Liste von Tees, die er im Stammgeschäft der Familie in der etwas ruhigeren Neustadt besorgt hatte, waren seine Bemühungen vergeblich gewesen. Lediglich das kunstvoll verpackte kleine Päckchen vom Juweliergeschäft am Marktplatz hatte seine Stimmung aufgehellt. Wie oft hatte Rieke, wenn sie durch das kleine Zentrum Husums gebummelt waren, vor dem Fenster gestanden und sich den Ring angesehen. Seine Frau äußerte im Gegensatz zu den Kindern keine unbescheidenen Wünsche. Rieke wusste, wie knapp die Familie kalkulieren musste, auch wenn sie selbst als Halbtagskraft in einer Buchhandlung in der Krämerstraße ein wenig zur Aufbesserung des Familienbudgets beisteuerte. Jetzt, in der Vorweihnachtszeit, war sie ganztags beschäftigt.
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