Gnade
so.«
Johan schaute seinen Sohn an. War das nicht das, was er wollte? Genügte es noch nicht? Er war genau wie Alice. Schmollte jahrelang. Lieà nicht locker.
»Hättest du das nicht damals sagen können?«, fragte Andreas leise.
»Was denn?«
»Das mit dem Wasserschaden.«
Johan schloss die Augen. So war es, wenn man starb. Er öffnete die Augen wieder und schaute Mai an. War es das, was sie Versöhnung nannte? Diesen erbärmlichen kleinen Wortwechsel zwischen einem schmächtigen Vierzigjährigen und einem noch schmächtigeren Siebzigjährigen? Dieses alltägliche Geschwätz über einen Wasserschaden im Ferienhaus? Dieses stinkende, triviale Schmollen? Johan lieà den Blick zu Andreas wandern. Was hatte der Sohn an sich, dass man ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte? Es
war ein vertrauter Impuls. So war es seit Andreasâ Kindheit. Dieses hilflose Amöbenkind, dessen Hände zitterten, das sich nie etwas traute und zu allem Ãberfluss noch ein Angeber war. So hatten ihn die Schulkameraden genannt. Angeber. Denn auch wenn er feige war, gab er mit sich an. Und log. Manche Kinder sind schlicht schwerer zu lieben als andere, hatte Alice gesagt. Und deshalb müssen wir uns noch mehr bemühen. Er ist unser Vogel, fügte sie hinzu.
Johan räusperte sich, nahm seine ganze Kraft zusammen und streckte dem Sohn die Hand hin.
Er war schlieÃlich sein Vogel, und niemandes sonst.
»Andreas«, sagte er. »Setz dich hier zu mir.«
Der Sohn setzte sich. Johan strich ihm über die Haare.
»Kannst du mir verzeihen?«
»Was denn? Das mit dem Haus?«
»Ja, das auch. Aber dass ich nicht der Vater gewesen bin, den du gebraucht hättest. Kannst du mir das verzeihen?«
Andreas drehte sich zu Ellen und sah sie an, fragend. Sie nickte ihm zu. Andreas holte tief Luft und wandte sich wieder Johan zu.
»Das ist nicht nötig. Ich ... Du hast nicht verstanden ... Ich wollte nur ...« Andreas unterbrach sich selbst, wie er es immer tat, aber dieses Mal, um dem Vater den Kopf auf die Schulter zu legen, tief Luft zu holen und zu weinen.
Als sie gehen wollten, schon in der Tür standen und ihm zum Abschied zuwinkten, fiel Ellen plötzlich etwas ein. Sie wühlte in ihrer Tasche und holte einen Fotoapparat heraus.
»Fast habe ich das Wichtigste vergessen!«, rief sie aus. Andreas wurde zurück an die Bettkante kommandiert. Er wurde aufgefordert, sich hinzusetzen und Johans Hand zu halten. Mai sollte stehen bleiben, möglichst fürsorglich im Hintergrund. Sie nahm die Kamera hoch, betrachtete das Bild durch die Linse, vergewisserte sich, dass alle gut aussahen, vor allem in dem gräulichen Nachmittagslicht, das durch das Fenster strömte. »So!«, sagte sie leise. »Jetzt haben wir für immer eine Erinnerung.«
Johan schaute sie an.
»Ellen«, sagte er. »Schick mir einen Abzug von dem Foto, bitte.«
Ellen nickte und sah hinüber zu Mai.
»Soll ich es hierher schicken oder zu euch nach Hause?«
Mai wollte gerade antworten, aber Johan war schneller.
»Schick es hierher ins Krankenhaus. An mich. Dann kann ich es mir abends vor dem Einschlafen anschauen.«
Ellen nickte noch einmal, zeigte aber auf ihren Bauch, um Folgendes zu erklären: »Es kann vielleicht etwas dauern, ich werde die Bilder wahrscheinlich erst nach
der Geburt entwickeln lassen, glaube ich. Die Wehen können jetzt jederzeit einsetzen, aber sie werden erst zwei Wochen nach dem Termin mit einem Tropf eingeleitet.« Sie plapperte unbekümmert weiter. »Deshalb weià ich nicht genau, wann ich sie schicken kann.«
»Jederzeit, meine Liebe«, unterbrach Johan. »Jederzeit. Und schick mir ruhig auch ein Bild von dem Baby.«
Ellen schaute Andreas an und lächelte, nickte eifrig. »Ich will ein Foto von dem Moment, wo das Baby ...« Johan räusperte sich. »Ich will ein Foto haben von dem Moment, wo sich das Baby zu dir dreht und dich zum ersten Mal berührt. Kannst du mir davon ein Foto schicken, Ellen?«
Sie nickte wieder, auch wenn sie sogleich die Schwierigkeiten gesehen haben muss, gerade ein solches Bild zu machen.
»Ellen«, sagte Johan.
Die Schwangere sah ihn an.
Er nickte seinem Sohn zu, hielt aber Ellens offenen Blick fest.
»Bleib bei ihm!«, sagte er.
»Aber ja doch!«, sagte sie und drückte die Hand des Sohns. »Na klar.«
Â
An den
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