Gnade
Miss Perine einige Tests durch, und als die Resultate feststanden, gab sie Michelle eine Nachricht für ihren Vater mit, in der sie ihn eindringlich bat, zur Elternsprechstunde in die Schule zu kommen.
Jake hatte noch nie zuvor mit einer Lehrerin oder einem Lehrer gesprochen. Er vermutete, dass seine Tochter in Schwierigkeiten war – vielleicht hatte sie sich ja mit einem Mitschüler geprügelt. Wenn man sie zu sehr reizte, vermochte sie äußerst aufbrausend zu sein, und ihre Brüder hatten ihr beigebracht, wie sie sich selbst verteidigen konnte. Sie war ziemlich klein für ihr Alter, und Remy und John Paul befürchteten, dass sie eine leichte Beute für die Raufbolde der Klasse war. Daher sorgten sie dafür, dass sich ihre Schwester wehren konnte – wenn auch mit unfairen Mitteln.
Jake erwartete also, dass er die Lehrerin besänftigen musste. Er zog seinen guten Sonntagsanzug an, spritzte sich ein wenig Aqua Velva ins Gesicht, das er nur bei besonderen Gelegenheiten benutzte, und ging die anderthalb Meilen zu Fuß zur Schule.
Miss Perine war eine Nervensäge, genau wie Jake vermutet hatte, aber sie war außerdem hübsch, und damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Er wurde sofort argwöhnisch. Warum gab sich eine junge, attraktive, allein stehende Frau in einem kleinen Nest wie Bowen mit fremden Kindern ab? Mit ihren Vorzügen konnte sie doch überall einen Job bekommen. Und weshalb war sie wohl noch nicht verheiratet? Sie sah aus wie Mitte zwanzig, und in dem Alter galt eine ledige Frau in dieser Gegend als alte Jungfer.
Miss Perine versicherte ihm, dass sie keinerlei Beschwerden vorzubringen habe. Ganz im Gegenteil, sie wollte ihm sagen, dass Michelle ein außergewöhnliches Kind sei. Jake straffte den Rücken. Er glaubte, sie wolle mit ihrer Bemerkung andeuten, dass seine Tochter nicht ganz richtig im Kopf war. Sämtliche Leute im Ort bezeichneten Buddy Dupond als außergewöhnliches Kind und nannten ihn auch noch so, nachdem er das Haus seiner Eltern in Brand gesteckt und die Polizei ihn in ein Irrenhaus gesperrt hatte. Dabei wollte Buddy niemandem schaden und schon gar niemanden umbringen. Er war einfach fasziniert von Feuer. Er hatte über zwölf Brände gelegt – allesamt im Sumpf, wo sie keinen großen Schaden anrichteten. Er erklärte seiner Mum, dass er das Feuer geradezu liebte. Er mochte den scharfen Geruch, das orangefarbene, gelbe und rote Glühen in der Dunkelheit und am meisten das Knistern und Knacken – genau wie knusprige Cornflakes. Der Arzt, der Buddy untersuchte, musste ihn selbstverständlich für außergewöhnlich halten. Und er gab ihm einen tollen Namen: Pyromane.
Es stellte sich jedoch heraus, dass Miss Perine Jakes kleine Tochter keineswegs beleidigen wollte, und sobald Jake das begriff, entspannte er sich merklich. Nachdem Miss Perine die Resultate des ersten Tests vorlagen, hatte sie einige Experten gebeten, Michelle genauer zu prüfen. Jake hatte keinen blassen Schimmer von einem IQ oder davon, wie jene Experten die Intelligenz einer Achtjährigen messen konnten, aber er verkündete der Lehrerin stolz, dass es ihn kein bisschen überrasche, dass seine Michelle schlau wie ein Fuchs war.
Es sei wichtig, dass er dem Kind die notwendige Förderung zukommen lasse, erklärte Miss Perine. Sie erzählte Jake, dass Michelle schon jetzt Literatur für Erwachsene las und dass sie zwei Schuljahre überspringen und ab dem nächsten Montag in ihre neue Klasse wechseln würde. Ob ihm aufgefallen sei, dass Michelle eine besondere Begabung für Naturwissenschaften und Mathematik besaß? Jake schloss aus all dem gebildeten Gerede, dass sein kleines Mädchen ein Genie war.
Miss Perine sagte, sie hielte sich selbst für eine gute Lehrerin, aber dennoch sei sie nicht in der Lage, Michelle die Ausbildung zu geben, die sie brauchte. Sie wollte, dass das kleine Mädchen eine Privatschule besuchte, in der sie ihre Talente entfalten und wo sie ihre Lernkurve selbst bestimmen konnte – was immer das auch bedeuten mochte.
Jake stand auf und überragte die Lehrerin dabei um einiges. Er schüttelte ihr die Hand und bedankte sich für die Komplimente, die sie Michelle gemacht hatte. Dennoch, fügte er hinzu, habe er keineswegs die Absicht, seine Tochter wegzuschicken. Sie war trotz allem ein kleines Mädchen und noch viel zu jung, um die Familie zu verlassen.
Miss Perine überredete ihn, ihr noch ein wenig länger zuzuhören. Sie bot ihm ein Glas Limonade an und bat ihn, wieder Platz zu nehmen. Da
Weitere Kostenlose Bücher