Gnosis
ihn.
Dann wandte sich Elijah wieder der Spiegelwand zu. Er sah, wie Terry im Raum dahinter die silberne Fernbedienung nahm und auf den 54-Zoll-Plasmabildschirm richtete. Die sorgsam zusammengestellte Gruppe (sechs Männer, sechs Frauen; sieben Weiße, eine Asiatin, zwei Latinos und zwei Afroamerikaner) blickte brav zum Bildschirm hinüber.
Elijah warf einen Blick auf sein Notebook und strich sich das wilde, rote Haar hinters Ohr. Der Bildschirm war in zwölf gleich große Quadrate eingeteilt. In jedem davon war ein aufblickendes Gesicht zu sehen, was ein wenig an den Vorspann von Drei Mädchen und drei Jungen erinnerte. Elijah behielt die Gruppe im Blick, die wiederum den großen Fernseher an der Wand anstarrte. Sein Puls beruhigte sich.
Dem Fernsehen galt seine ganze Liebe. Schlaflos zappte Elijah jede Nacht acht Stunden lang durch die Kanäle. Er sah sich fast alles an, auch wenn er durchaus Vorlieben hatte – Fantasy, Science-Fiction, Gerichts- und Krimiserien, Kinofilme, Politik und natürlich Reality-Shows.
Mit großer Leidenschaft studierte Elijah die Realität. Aber was er jetzt vor sich sah, war unverfälscht. Konzentriert betrachtete Elijah die zwölf Gesichter, während sie die Stirn in Falten legten, die Augen zusammenkniffen, die Mundwinkel herunterzogen und mit der Nase zuckten. Für sich allein genommen, hatten die einzelnen Bewegungen nichts zu bedeuten. Zusammen jedoch … nun, da kam dann Elijahs Talent ins Spiel.
Nachdem man ihn im Facial Action Coding System ausgebildet hatte, wusste Elijah, wie man Gesichter deutete. Das FACS war 1976 von einem Psychologieprofessor namens Paul Ekman entwickelt worden und definierte dreitausend verschiedene Gesichtsausdrücke samt der dadurch übermittelten Empfindungen. Seit Elijah das 500-Seiten-Handbuch verinnerlicht hatte, in dem sechsundvierzig verschiedene Muskelbewegungen, sogenannte «Action Units», beschrieben wurden, war das menschliche Gesicht für ihn im wahrsten Sinn des Wortes ein offenes Buch.
Ohne weiteres erkannte Elijah den Unterschied zwischen einem unaufrichtigen, gezwungenen «Panamerikanischen Lächeln» – bei dem einfach nur die Mundwinkel hochgezogen wurden (AU 12) – und einem ehrlichen, ungezwungenen «Duchenne-Lächeln» (AU 12 in Verbindung mit einer Wangenhebung, AU 6, bei der sich um die Augen herum Fältchen bildeten). Er kannte Angst (AU 1, 2, 15 und 20 – das Anheben der inneren und äußeren Augenbraue in Verbindung mit dem Zusammenpressen und Dehnen der Lippen), Ekel (AU 4, 9 und 17 – Senken der Stirn, Rümpfen der Nase und Heben des Kinns) und jede andere Empfindung, die das Herz umtreiben mochte.
Im Lauf der Jahre hatte Elijah begriffen, dass die Menschen ihre Gefühle weder verbergen noch beeinflussen konnten. Diese mangelnde Kontrolle ermöglichte es ihm, die Wahrheit zu erkennen. Und damit machte sich Elijah etwas zunutze, was die meisten Menschen nicht begreifen wollen: dass nämlich der Körper – nicht der Geist – das Ich beherrscht.
Wie sagte Schopenhauer?
Der Mensch kann wohl tun, was er will; er kann aber nicht wollen, was er will.
Elijah nickte schweigend. Es stimmte. Der Körper steuerte das Verlangen, und das Verlangen steuerte den Willen. Alles andere war nur Lärm, der das Bewusstsein zu der Annahme verleiten sollte, dass der Mensch kein Sklave war.
Abrupt endete das Video, und Terry wandte sich mit ausdrucksloser Miene ihren Testpersonen zu. Dunkelblondes Haar umrahmte ihr unscheinbares Gesicht, das bestens zu einer Statistin auf der Geschworenenbank bei Law & Order gepasst hätte.
«Nun», sagte Terry. «Was meinen Sie?»
Die Asiatin sprach zuerst. Instinktiv gab Elijah ihr den Namen der Prominenten, der sie ähnlich sah (Ming Na aus Emergency Room), dann spitzte er die Ohren. Obwohl er sich alle Mühe gab, konnte er kaum hören, was sie sagte.
Also konzentrierte er sich auf ihre Stimme. Den Klang. Die Betonung. Ihre Sprachmelodie. Die Audiohinweise in Verbindung mit der sich wandelnden Mimik (AU 6, 11 und 12) verrieten ihm alles, was er wissen musste.
Ein Proband nach dem anderen antwortete auf Terrys geschickte Fragen. Als Letztes kam ein grob wirkender Latino an die Reihe, der Elijah an Luis Guzman erinnerte, einen der Gefangenen in Oz auf HBO. Guzman war nervös und seltsam angespannt – die Lippen gepresst (AU 23), die Augen unruhig.
Durch den Spiegel sah Elijah, dass Guzman unter dem Tisch mit seinem Fuß wippte. Plötzlich wurde es ihm klar: Der Mann war drauf und brauchte
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