Goebel, Joey
auf dem Flohmarkt religiöse Artikel verkauft werden könnten. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Vorstellung von einem Flohmarkt gehabt; sie hatte nämlich bisher noch nie einen betreten. Als Erbin des Vermögens eines bekannten Financiers namens James Hurstbourne konnte Elizabeth sich hier als Einzige rühmen, schon einmal in einem Privatflugzeug geflogen zu sein.
[24] Da ihre erste Begegnung mit einem Händler so angenehm verlaufen war, wollte sie jetzt noch mehr Preise für die Tombolas ihrer Kirche suchen. Bald entdeckte sie T -Shirts, auf denen Jesu gepeinigter, von blutigen Striemen durchzogener Rücken abgebildet war, und zwischen den Striemen stand: WILLST DU JESU LIEBE VERSTEHEN, LIES ZWISCHEN DEN ZEILEN . Sie kaufte zehn Stück.
Als Elizabeth ihren Rundgang fortsetzte, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sie in ihrem eleganten schwarz-weiß gemusterten seidenen Wickelkleid völlig aus dem Rahmen fiel. Offenbar waren aktuelle Modetrends auf dem Flohmarkt nicht angesagt. Die altmodische Kleidung der anderen wirkte auf sie so, als hätte sie mit einer Zeitmaschine einen Zeitsprung von mehreren Jahrzehnten gemacht. Die achtziger, geschweige denn die neunziger Jahre hatten hier modisch keine Spuren hinterlassen.
Außerdem schien sie anscheinend als Einzige einzukaufen. Die anderen Besucher hoben misstrauisch alles hoch, drehten und wendeten es und suchten nach Mängeln, die es einfach geben musste, und selbst wenn es keine Mängel gab, war der Betrag auf dem gelben Preisschildchen garantiert noch zu hoch. Sie kannte die Sorte Leute: Sie glaubten, man könne gar nicht vorsichtig genug sein, und gingen mit dem diffusen Gefühl durchs Leben, andauernd übers Ohr gehauen zu werden. Unbewusst hielten sie verzweifelt ihre strassbesetzten Hand- und ihre grellrosa Gürteltaschen umklammert.
Auch wenn der eine oder andere Händler durchaus manche Kunden übers Ohr hauen mochte, war der Flohmarkt von Commonwealth County doch kein wirklich [25] gefährlicher Ort. Man konnte höchstens bemängeln, dass es sich dabei um den organisierten Versuch handelte, Dinge zu Geld zu machen, die niemand mehr haben wollte. Der Flohmarkt bot Händlern die Gelegenheit, noch einen letzten müden Dollar aus einer Ware zu quetschen, die den Wirtschaftskreislauf eigentlich schon komplett durchlaufen hatte.
Weil dies einer der größten Flohmärkte im Herzen der USA war, kamen selbst an einem weniger geschäftigen Tag wie heute genügend Menschen, dass ein stetiger Kundenstrom an Blue Genes Stand vorbeifloss. Doch die meisten schoben sich achtlos an den Auslagen Blue Genes und der anderen 152 Händler vorbei. Blue Genes erster ernsthafter Interessent des Tages tauchte erst kurz vor halb zwölf in Gestalt eines kleinen Jungen auf, dessen Gesicht von Kratzern übersät war. Der Junge wollte zu einem von Blue Genes Tischen laufen, doch seine Großmutter zog ihn an einer Leine zurück, die mit einer Art Geschirr an seinem Oberkörper befestigt war.
»Keine Hektik«, sagte die Großmutter. »Bin schon unterwegs.« Zuerst hörte Blue Gene nur ein mechanisches Surren. Dann sah er sie in einem roten elektrischen Rollstuhl langsam heranrollen. Sie war korpulent, und da sie keinen BH trug, hingen ihr die Brüste bis zu den Hüften. Brandnarben ringelten sich ihre stämmigen Beine hinauf.
»Wow«, sagte der Junge, als er Blue Genes Auslage von nahem sah. Blue Gene nickte der Großmutter zu, die ihm zulächelte.
»Hi«, sagte sie.
»Hallo.«
[26] »Guck doch mal, was er alles hat, Oma«, sagte das Kind ehrfürchtig.
»Ja, er hat haufenweise von den Dingern, nicht wahr?«
»Wow«, wiederholte der Junge.
Unwillkürlich empfand Blue Gene immer ein wenig Stolz, wenn ein Kunde so auf seine Auslage reagierte. Er musste zugeben, seine Spielsachen sahen wirklich hübsch aus, wie sie da in vielen kaleidoskopartig bunten Farben über den ganzen Tisch verteilt lagen, nur dass Blue Gene das Wort hübsch nie für etwas verwendet hätte, was in irgendeiner Weise mit ihm zu tun hatte.
Seine drei Tische waren mit die buntesten in der ganzen Halle, aber Blue Genes Artikel waren ja auch in einem besonders bunten Jahrzehnt hergestellt worden. Wenn Blue Gene an die Achtziger dachte, sah er vor seinem inneren Auge Bonbonfarben: Neongrün, Neonpink, Lila, Orange und Gelb. Auf seinen Tischen war denn auch das gesamte Farbspektrum vertreten, mit einem leichten Akzent auf Grün. Da lagen Moss Man und Battle Cat, Golobolus und Lady Jaye, Cosmos und Scavenger neben
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