Göring: Eine Karriere (German Edition)
Glenny und Peter Samuelevich, beides ehemalige US-Wachsoldaten im Nürnberger Gefängnis, überzeugt, dass Göring die Giftampulle unmöglich über einen so langen Zeitraum vor den ständigen peniblen Kontrollen in seiner Zelle habe verstecken können. Er hätte zudem nie wissen können, wann er in eine andere Zelle verlegt werden würde, von der aus er nie mehr an sein Versteck herangekommen wäre. Die Giftkapsel müsse ihm in der Nürnberger Zelle zugesteckt worden sein. Wenn ihre Annahme stimmt, hat Göring in seinem Abschiedsbrief bewusst eine falsche Fährte gelegt – entweder um den ihm verhassten Andrus zu düpieren, oder um seinen heimlichen Helfer zu schützen. Doch wenn dies richtig ist: Wer war der große Unbekannte, der Göring zum Selbstmord in letzter Minute verhalf?
»Erschießen hätte ich mich ohne weiteres lassen«: Seiner Hinrichtung durch den Strang entzog sich Göring durch Selbstmord
Eine Antwort auf diese Frage hat vor kurzem Herbert Lee Stivers gegeben. Mit seinem Bekenntnis machte der ehemalige US-Wachsoldat im Nürnberger Gefängnis weltweit Schlagzeilen: Er selbst habe die Giftampulle in Görings Zelle geschmuggelt, und zwar in einem Füllfederhalter, erklärte Stivers. Seine Geschichte klingt abenteuerlich: Bei einem Ausgang habe er, als damals Achtzehnjähriger, auf der Straße ein deutsches Mädchen namens »Mona« kennen gelernt. Man sei ins Gespräch gekommen, und er habe ihr auf ihren Wunsch hin ein Autogramm von Hermann Göring besorgt. Kurz darauf habe »Mona« ihn dann mit einem gewissen »Matthias« bekannt gemacht, den sie als guten Freund der Familie Göring vorstellte. Dieser »Matthias«, so Stivers, habe ihm erklärt, dass Göring im Gefängnis nicht die richtige Medizin bekomme und daher ständig unter Schmerzen leide. »Matthias« habe ihm einen Füllfederhalter überreicht, in der eine Kapsel mit »Medizin« versteckt war, die er Göring übergeben sollte. Jung und unbedarft, wie er war, habe er sich nichts dabei gedacht – schließlich war Göring schon zum Tode verurteilt worden, warum sollte er Selbstmord begehen? – und Göring den Füllfederhalter überbracht. Göring habe die Kapsel an sich genommen und ihm den Füllfederhalter zurückgegeben. Kurz darauf seien »Mona« und »Matthias« spurlos verschwunden, und Göring habe Selbstmord begangen, wahrscheinlich mit dem Inhalt des Füllfederhalters.
Mit seiner Geschichte sorgte Stivers bei seinen einstigen Kameraden für skeptisches Kopfschütteln. »Als ich vor vielen Jahren Nürnberg verlassen habe«, erinnert sich William Glenny, »sagte ein Freund zu mir: ›Glenny, warum sagst du nicht, dass du Göring das Gift gegeben hast?‹ – schließlich war ich direkt dort und hätte ihm leicht die Kapsel geben können, als ich in seiner Zelle war. Ich antwortete ihm: ›Klar, das ist eine gute Idee. Ich sage, ich hätte ihm die Kapsel gegeben, und erfinde eine Geschichte.‹ Ich meine, jeder, der damals Wachmann im Nürnberger Gefängnis war, könnte eine solche Geschichte erzählen.« Auch sein Kamerad Peter Samuelevich hält nichts von Stivers’ Story. »Ich glaube, er hat diese Geschichte erfunden. Viele Leute, auch ich, meinen, dass jemand, vielleicht Leutnant Wheelis, die Giftkapsel aus dem Gepäckraum zu Göring gebracht hat.«
In der Tat ist dies bis heute die wahrscheinlichste Version: Görings »Jägerfreund« Jack Wheelis war am Abend des Selbstmordes wachhabender Offizier und hatte Zugang zum Gepäckraum, wo auch Görings Sachen lagerten. Er hätte Göring jene Gegenstände bringen können, in denen – mit Wissen oder Unwissen von Wheelis – die tödliche Giftampulle verborgen war. Dies würde erklären, warum Göring in seinem Abschiedsbrief nie die geheimnisvolle Stelle genannt hat, in der er über viele Monate hinweg die tödliche Giftampulle versteckt hat. Doch ob die wahrscheinlichste auch die wahre Version ist, wird sich heute nicht mehr klären lassen. Jack Wheelis starb bereits 1954. Ein Bekenntnis hat er nicht hinterlassen.
Es gibt keinen Platz in Deutschland, von dem man sagen könnte, hier sei Göring begraben.
Ernest Uiberall, Dolmetscher in Nürnberg
Am Tag nach Görings Selbstmord streuten amerikanische Soldaten in München-Solln die Asche mehrerer Leichen in den Conwentzbach, einen Zufluss der Isar. Einer der Toten trug den Namen »Georg Munger«. Die GIs glaubten, einen verunglückten Kameraden zu bestatten. Sie ahnten nicht, dass »Munger« in Wirklichkeit Hermann Göring
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