Göring: Eine Karriere (German Edition)
dieser von seiner Pritsche auf und streckte ihm die Hand entgegen. Wie angewurzelt blieb Michel stehen: »Ich sagte kein einziges Wort. Ich konnte es nicht erklären, ich konnte es nicht ertragen. Ich war 23 Jahre alt und hatte die Vernichtungslager hinter mir. Stahmer blickte mich verständnislos an, und Göring stand da mit ausgestreckter Hand. Ich drehte mich um, ging zur Tür und bat den Wachposten, mich wieder hinauszulassen. Ich sagte kein einziges Wort. Und ich habe es bis heute nie bedauert, dass ich so gehandelt habe. Ich konnte mich einfach nicht hinsetzen und mit Hermann Göring sprechen. Stahmer erzählte mir am nächsten Tag, wie erstaunt Göring gewesen sei, dass ich einfach hinausspaziert war.«
Am 13. März 1946 öffnete sich endlich der Vorhang zur Bühne, die Göring im Prozess gesucht hatte. Zuerst durfte er selbst reden, dann am 18. März nahm der amerikanische Chefankläger Jackson den »Nazi number one« ins Verhör. Mit glatt nach hinten gekämmtem Haar und arroganter Miene betrat Göring den Zeugenstand. Mit gewandter Rhetorik parierte er die Fragen Jacksons, der ihn in die Enge zu treiben versuchte. Als Jackson ihm die geheimen Angriffspläne des NS-Regimes vorwarf, antwortete Göring spöttisch, er könne sich nicht erinnern, dass die USA ihre eigenen Mobilisierungspläne öffentlich machten. In den Pausen überlegte Jackson mit seinen Kollegen zeitweilig sogar, ob es nicht besser wäre, die Befragung abzubrechen. »Göring kann hier Volksreden halten«, klagte er: »Er wird immer arroganter, und wenn das so weitergeht, wird das unseren Ländern mehr schaden als nutzen.« Nach dem Ende des Verhörs am 21. März war Göring mit seiner Leistung sichtlich zufrieden. »Wenn ihr das nur halb so gut macht wie ich, dann macht ihr es richtig«, erklärte er den anderen Angeklagten.
Göring hatte nichts zu verlieren. … Mehrere Runden gewann er gegen Jackson im Zeugenstand zur Freude der Amerikaner. An sich blieb er aber egozentrisch, eitel und aufgeblasen.
Otto Nelte, Verteidiger Keitels in Nürnberg
»Ich möchte lieber nicht darüber sprechen oder auch nur daran denken«: Vor unliebsamen Wahrheiten verschloss Göring noch im Gerichtssaal die Augen
Mit seinem Auftritt konnte er zwar noch einmal beeindrucken, für die Richter aber stand seine schwere Schuld außer Zweifel. »Es kann kein mildernder Umstand angeführt werden«, stellte das Urteil fest, das am 1. Oktober 1946 verkündet wurde. »Göring war oft, fast immer die treibende Kraft, und nur seinem Führer stand er nach. Er war die leitende Persönlichkeit bei den Angriffskriegen, sowohl als politischer als auch militärischer Führer; er war Leiter der Sklavenarbeiter und Urheber des Unterdrückungsprogramms gegen die Juden und gegen andere Rassen im In- und Ausland. Alle diese Verbrechen wurden von ihm offen zugegeben. … Diese Schuld ist einmalig in ihrer Ungeheuerlichkeit. Für diesen Mann lässt sich in dem ganzen Prozessstoff keine Entschuldigung finden.« Obwohl Göring sich kaum Illusionen darüber machen durfte, zu welchem Ergebnis die Richter kommen würden, traf ihn der Urteilsspruch schwer. »Göring kam als Erster herunter und ging mit langen Schritten und starrem Gesicht und vor Entsetzen hervorquellenden Augen in seine Zelle. ›Tod!‹, sagte er, als er sich auf die Pritsche fallen ließ. Obwohl er versuchte, lässig zu wirken, zitterten seine Hände. Seine Augen waren feucht, und er atmete schwer, als kämpfe er einen seelischen Kollaps nieder«, schilderte der Gefängnispsychologe Gilbert Görings Reaktion. Am selben Abend hatte Göring so starkes Herzrasen, dass er ärztlich behandelt werden musste. »Das Urteil«, beobachtete der deutsche Gefängnisarzt Dr. Ludwig Pflücker, »hat ihn doch sehr erregt.« Nur die Hoffnung auf die Nachwelt hielt ihn aufrecht. Zu einem der Dolmetscher sagte Göring: »Jeder muss sterben, aber als Märtyrer zu sterben, macht unsterblich. Ihr werdet unsere Knochen einst in Marmorsärge legen.«
Wie Frank und Streicher lehnte er es ab, ein Gnadengesuch an die Sieger zu richten. Gegen seinen Willen legte sein Verteidiger Dr. Stahmer jedoch eine Petition vor, in der er im Namen seines Mandanten bat, das Urteil entweder in »Lebenslänglich« umzuwandeln oder zumindest die ehrlose Hinrichtung durch den Strang durch den soldatischen Tod durch Erschießen zu ersetzen. Am 7. Oktober durfte seine Frau Emmy zum letzten Mal zu ihm. Einen Monat zuvor, im September, hatten sie sich
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