Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
in Leipzig und Straßburg, ohne rechten Abschluß, wird am Ende doch Jurist, ist andauernd verliebt, ein Schwarm junger Mädchen und reiferer Frauen. Mit dem »Götz von Berlichingen« wird er in Deutschland berühmt, nach Erscheinen der »Leiden des jungen Werther« redet das literarische Europa von ihm: Napoleon wird behaupten, er habe den Roman siebenmal gelesen. Besucher strömen nach Frankfurt, um dort den schönen, beredten und genialischen jungen Mann zu sehen und zu hören. Eine Generation vor Lord Byron fühlt er sich als Liebling der Götter, und wie jener pflegt auch er poetischen Umgang mit seinem Teufel. Noch in Frankfurt beginnt er mit der lebenslangen Arbeit am »Faust«, diesem kanonischen Drama der Neuzeit. Nach der Genie-Zeit in Frankfurt wird Goethe des literarischen Lebens überdrüssig, riskiert den radikalen Bruch und zieht 1775 ins kleine Herzogtum Sachsen-Weimar, wo er, als Freund des Herzogs, zum Minister aufsteigt. Er dilettiert in Naturforschungen, flüchtet nach Italien, lebt in wilder Ehe – und bei alledem schreibt er die unvergeßlichsten Liebesgedichte, tritt in edlen Wettstreit mit dem Freund und Schriftstellerkollegen Schiller, schreibt Romane, macht Politik, pflegt Umgang mit den Großen aus Kunst und Wissenschaft. Bereits zu Lebzeiten wird Goethe eine Art Institution. Er wird sich selbst historisch, schreibt die – nach Augustins »Confessiones« und Jean-Jacques Rousseaus »Confessions« – für das alte Europa wohl bedeutendste Autobiographie, »Dichtung und Wahrheit«. Doch so steif und würdevoll er sich auch bisweilen gibt, so zeigt er sich in seinem Alterswerk auch als kühner und sardonischer Mephisto, der alle Konventionen sprengt.
Dabei blieb ihm stets bewußt, daß die literarischen Werke das eine sind, ein anderes das Leben selbst. Auch ihm wollte er den Charakter eines Werkes geben. Was ist das – ein Werk? Es ragt aus den Zeitläuften heraus, mit Anfang und Ende, und dazwischen eine festumrissene Gestalt. Eine Insel der Bedeutsamkeit im Meer des Zufälligen und Gestaltlosen, das Goethe mit Schrecken erfüllte. Für ihn mußte alles eine Gestalt haben. Entweder er entdeckte sie, oder er schuf sie, im alltäglichen menschlichen Verkehr, in den Freundschaften, in Briefen und Gesprächen. Er war ein Mensch der Rituale, Symbole und Allegorien, ein Freund von Andeutung und Anspielung – und doch wollte er immer auch zu einem Ergebnis, einer Gestalt, eben zu einem Werk kommen. Das galt besonders bei den Dienstpflichten. Die Straßen sollten besser werden, die Bauern sollten von Lasten befreit, arme und tüchtige Leute sollten in Lohn und Brot gesetzt werden, der Bergbau sollte Erträge abwerfen, und auf dem Theater sollte das Publikum möglichst an jedem Abend etwas zu lachen oder zu weinen haben.
Auf der einen Seite die Werke, in denen das Leben Gestalt gewinnt, auf der anderen Seite die Aufmerksamkeit. Sie ist das schönste Kompliment, das man dem Leben machen kann, dem eigenen und dem der anderen. Auch die Natur verdient es, liebevoll wahrgenommen zu werden. Goethe erforschte die Natur, indem er sie aufmerksam beobachtete. Er war überzeugt, man müsse nur genau genug hinschauen, das Wichtige und Wahre werde sich allemal zeigen. Nichts anderes, keine Geheimnistuerei. Er pflegte eine Wissenschaft, bei der einem Hören und Sehen nicht vergeht. Das meiste, was er entdeckte, gefiel ihm. Es gefiel ihm auch, was ihm gelang. Und wenn es den anderen nicht gefiel, so war es ihm am Ende auch egal. Ihm war die Lebenszeit zu wertvoll, um sie mit Kritikern zu vergeuden. Widersacher kommen nicht in Betracht , sagte er einmal.
Goethe war ein Sammler, nicht nur von Gegenständen, sondern von Eindrücken. So war es bei den persönlichen Begegnungen. Er fragte sich stets, ob und worin sie ihn gefördert hätten, wie sein Lieblingsausdruck dafür lautete. Goethe liebte das Lebendige und wollte so viel wie möglich davon festhalten und in irgendeine Form bringen. Ein Augenblick, in eine Form gebracht, ist gerettet. Ein halbes Jahr vor seinem Tode klettert er noch einmal auf den Kickelhahn, um jenes Gekritzel von einst an der Innenwand der Jägerhütte zu lesen: Über allen Gipfeln ist Ruh.
Es gibt keinen Autor der neueren Zeit, bei dem die biographischen Quellen so reichlich fließen, aber auch keinen, der von so vielen Meinungen, Mutmaßungen und Interpretationen zugedeckt wird. Dieses Buch nähert sich diesem vielleicht letzten Universalgenie ausschließlich aus den primären
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