Goetheruh
seinem privaten Literaturkreis teilzunehmen, und heute Abend sollte ich den anderen vorgestellt werden. Außerdem hatte er mich gebeten, ihm bei einer dringenden Angelegenheit zu helfen, die er nicht näher erklärt hatte und die mir etwas mysteriös vorkam. Ich wusste lediglich, dass es mit seiner Arbeit zu tun hatte. Er war bei der Stadt Weimar beschäftigt. Wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen langweiligen Beamtenkram, doch für Cousin Benno tat ich alles. Weiterhin hatte ich von der ›Frankfurter Presse‹ den Auftrag erhalten, eine Buchbesprechung zu schreiben. Solche Rezensionen sind zwar nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber es ging um Goethes Feinde, und als anerkannter Goethe-Spezialist konnte ich das kaum ablehnen, ohne meinen Ruf zu gefährden. Für solche Aufträge nahm ich mir gerne Urlaub vom Universitätsalltag und zog mich aus dem hektischen Frankfurt ins ruhigere Weimar zurück.
Ich passierte zügig die Weimarhalle, folgte der Straße nach links durch den Park, ließ das Schwanseebad rechter Hand liegen und bog einige Minuten später schließlich in die Steubenstraße ein. In diesem Moment klingelte mein Handy. Ich meldete mich über die Freisprechanlage: »Hier Hendrik Wilmut.«
»Wo bist du?«, wollte Benno wissen.
»Steubenstraße …«
»Wir warten auf dich!«
Ich stieg auf die Bremse und schoss in halsbrecherischer Manier in eine Parklücke. »Wieso wartet ihr auf mich, wann waren wir denn verabredet?«
»Vor 20 Minuten!«
Ich sah auf die Uhr. »Oh, tut mir leid.«
»Macht nichts, ich kenn dich ja.« Seine Wahrheitsliebe war manchmal frappierend. »Nur heute warten drei weitere Leute auf dich«, meinte er betont gelassen.
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wieso, wer denn noch?«
»Das erzähle ich dir, wenn du hier bist.«
»Gut, gib mir zehn Minuten!«
Ich schoss wieder aus der Parklücke heraus, wendete und gab Gas. Wenn etwas für Benno so dringend erschien, dann war es auch wirklich dringend, dann konnte es sich nicht um langweiligen Beamtenkram handeln.
Während ich mich geduldig durch den dichten Verkehr am Goetheplatz quälte, sah ich meinen Cousin in Gedanken vor mir.
Benno Kessler war ein Mann, der sofort jeden Raum einnimmt. Seine imposante Erscheinung mit den schwarzen Haaren, dem dunklen, akkurat geschnittenen Vollbart und dem lebhaften, von einer dünnen Goldrahmenbrille getragenen Blick vermittelte eine starke physische Präsenz. Zusammen mit seiner Fähigkeit zur analytischen Denkweise und seinen Führungseigenschaften ließ ihn das in den Augen vieler Mitbürger als eloquenten Macher erscheinen. Doch kaum einer wusste, dass ihm auch ein sensibler, nachdenklicher Geist innewohnte. Einen Großteil der zum Menschsein notwendigen seelischen Befriedung zog er aus seiner beruflichen Tätigkeit, die er weniger als Arbeit denn als Dienst an der Gemeinschaft verstand. Und aus seinem Engagement für Familie und Freunde. Dieses Verhalten war ein Relikt aus der DDR-Zeit, in der man nicht anders existieren konnte. Ich mochte das sehr. Er wusste das und dies ist Teil einer unausgesprochenen Verbindung zwischen uns.
Bennos Büro lag im Westflügel eines großen Gebäudekomplexes in der Schwanseestraße, aus seinem Fenster hatte man einen wunderschönen Blick über den Weimarhallenpark. Ich kannte den Weg. ›Benno Kessler – Stadtrat für Kultur und Bildung‹ stand an der Tür. Ich ging ins Vorzimmer, seine Sekretärin erwartete mich bereits.
»Hallo, Herr Wilmut, gehen Sie bitte gleich durch, es sind schon alle da.«
Mit einem kurzen Nicken und ohne zu fragen, wer denn alle wären, öffnete ich die Tür. Am Besprechungstisch saßen vier Männer. Außer Benno kannte ich nur einen – und den lediglich aus der Zeitung: Hans Blume, der persönliche Referent des Oberbürgermeisters. Benno erklärte kurz, dass Blume diesen Fall im Auftrag des OB übernommen hatte und stellte mich vor. Blumes Hand fühlte sich schwammig an. Ich betrachtete ihn interessiert.
Hans Blume war ein blasser, gestresst wirkender Endvierziger, rundes verschwitztes Gesicht, weißes Hemd, Ärmel hochgeschlagen, biedere Krawatte, schwarz mit weißen Punkten.
Die beiden anderen Herren begrüßten mich ebenfalls. Martin Wenzel, eleganter 60-Jähriger im Nadelstreifenanzug, volles grau meliertes Haar, spitze Nase, Leiter des Goethe-Nationalmuseums, und Siegfried Dorst, immergebräunter, verlebter Mittfünfziger, Glatze, drahtiger Typ, hessischer Dialekt, Hauptkommissar bei der Kripo Weimar.
Ich
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