Goetheruh
arbeitet dort nun als Dozent für Literaturgeschichte. Er interessierte sich schon immer für die Weimarer Klassik, hat mehrere Bücher veröffentlicht und gilt als Kenner des Lebens und Werks von Johann Wolfgang von Goethe.«
Die Aufmerksamkeit stieg.
»Er hat eine Zweitwohnung in Weimar und hält sich mehrere Wochen im Jahr hier auf. Er ist 43 Jahre alt, sieht aber aus wie – 42 …«, ein leichtes Grinsen umspielte Bennos Mund, »und er ist ledig.« Das Grinsen wurde breiter. »Im Alter von vier Jahren verließ er mit seinen Eltern Weimar und lebt seitdem in Hessen. Hab ich noch was vergessen?« Er sah mich an.
»Ich spiele gern Tennis!«
»Ach ja, das ist natürlich sehr wichtig.«
Sophie fügte an, dass mich doch alle duzen sollten, das sei ja so üblich im Kulturkreis. Die anderen hatten nichts einzuwenden, woraufhin alle mir die Hand gaben und zusammen darauf anstießen. Benno fuhr fort: »Wie üblich bringt jedes Mal einer von uns ein Diskussionsthema mit. Heute kommt es natürlich von Hendrik!«
Er sah mich auffordernd an. Die Einzelheiten hatte er mir vorher erklärt. Es ging nur um ein Thema, zu dem die Diskussion angestoßen werden sollte, eventuell ein paar kleine Zusatzinformationen, mehr nicht. Der Rest ergab sich aus der Gruppe. Ich muss gestehen, dass ich doch etwas aufgeregt war, obwohl ich bereits viele Referate und Vorlesungen gehalten hatte, aber dies war etwas Besonderes.
»Ja«, begann ich zögernd, »ich hoffe, das Thema interessiert euch. Ich möchte gerne zur Diskussion stellen, ob Goethe mit seinem Werther nicht einige Selbstmorde verursacht hat und somit für verlorene Menschenleben verantwortlich ist.«
Keine Reaktion. Stille. Verunsicherung.
»Äh … ist das in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig nach.
Anscheinend nicht. Keiner sah mich an. Schließlich ergriff Bernstedt das Wort. »Entschuldige, Hendrik, aber dieses Thema ist so oft besprochen worden, dass wir es kaum mehr hören können, auch wir haben es hier schon einige Male diskutiert. Und es gibt dazu dermaßen viel Sekundärliteratur, dass man ganz Weimar damit pflastern könnte.«
»Ja, ja, genau!«, rief Felix Gensing laut.
Ich war sprachlos. Offensichtlich hatte ich den Anspruch dieser Leute unterschätzt.
Benno kraulte sich den Bart. »Vielleicht sollten wir es einfach noch einmal versuchen, ich meine, vielleicht hat Hendrik ja ein paar neue Aspekte?«
Ich nickte heftig, ohne ihn zu unterbrechen.
»Und wenn sich herausstellt, dass wir bereits alles diskutiert haben, dann wissen wir zumindest, dass wir genauso gut sind wie ein Literaturexperte.«
Nicht schlecht. Jetzt wusste ich auch, warum Benno Politiker geworden war. Nach einigem Gemurre und Gebrumme stimmte man zu.
»Wisst ihr eigentlich, dass Goethe später eine zweite Version des Werther veröffentlichte, die die besagten Vorwürfe erneut schürte?«, fragte ich. So schnell ließ ich nicht locker.
Die meisten sahen mich erstaunt an, nur Cindy schien davon gehört zu haben. »Well, ja«, begann sie, »mit dieser zweiten Version ging er aber weg von dieser individuellen Lösung, die der Kerl, der Werther, für sein Problem suchte. Er konzentrierte sich mehr auf den gesellschaftspolitischen – wie sagt man – Aspekt?«
»Aspekt, ja, richtig!«, antwortete ich verblüfft. Selten hatte ich eine solch gute Argumentation zu diesem Thema gehört – Respekt! Damit war der Bann gebrochen, die Diskussion in Gang.
»Jedenfalls«, meinte Bernstedt, »ist es erwiesen, dass viele Menschen nach der Veröffentlichung des Werther die sehr … wie soll ich sagen … schicksalhafte Art der Liebesbeziehung übernahmen, Werthers blau-gelbe Kleidung kopierten und sich in einigen Fällen sogar das Leben nahmen.«
»Soviel ich weiß, hat der Werther ja erst Goethes Weltruhm begründet«, warf Sophie ein, »vielleicht hatte er ja gar nicht mit solch einer weitreichenden Wirkung gerechnet?«
»Das glaube ich auch nicht. Ich meine, dass er das richtig geplant hatte«, ereiferte sich Felix Gensing.
»Aber vielleicht hat er es zumindest billigend in Kauf genommen!«, antwortete ich.
»Wie kommst du darauf?«, wollte Benno wissen. Alle starrten mich an.
»Na ja, ganz sicher bin ich nicht, wir können den großen Meister ja nicht mehr fragen und es gibt keine eindeutigen Nachweise. Jedenfalls sagte Goethe viel später zu seinem Freund Eckermann: ›Ich habe das Buch‹ – gemeint war der Werther – ›nur ein einziges Mal wieder gelesen und mich gehütet, es
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