Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
unserer Version zu
identifizieren. Wir sind uns bewusst, dass wir diese Leute auf eine schwierige
Reise mitnehmen. Aber die Reise lohnt sich, denn am Ende werden sie erkennen,
dass Goethes Grundideen nach wie vor aktuell sind. Außerdem möchten wir mehr
junge Menschen mit dieser Aufführung ansprechen und sie dazu bringen, ins
Theater zu gehen.«
Harry
Hartung hob beide Hände. »Und Sie meinen, die Jugendlichen gehen einfach so in
ein Goethe-Stück, bei all den Angeboten an Kinos, Fernsehkanälen und
Computerspielen?«
»Sicher
nicht sofort«, antwortete Martin Feinert, »aber wir arbeiten daran. Auch mit
unseren beiden Bühnen im e-werk gehen wir in diese Richtung. Alternative Spielstätten
werden vom jungen Publikum gut angenommen.«
Benno
strich sich durch seinen dunklen Vollbart. Das tat er immer, wenn er
nachdachte. »Und warum sind Sie dann mit dem ›Clavigo‹ ins Große Haus gegangen
statt ins e-werk?«
»Berechtigte
Frage«, übernahm Hubertus von Wengler wieder. »Für solch ein Stück sind die
Zuschauerkapazitäten im e-werk zu klein, wir müssen auch an unsere Finanzen
denken. Im Übrigen, Herr Hartung, zu den beiden fehlenden Figuren: Wir haben
Buenco und Saint George komplett herausgenommen, weil Goethes Original sehr auf
die männlichen Rollen zugeschnitten ist, besonders Clavigo, Carlos und
Beaumarchais. Die Rolle der Marie hingegen wird etwas in den Hintergrund
gedrängt, obwohl es im gesamten Stück thematisch nur um sie geht. Will man eine
gute Schauspielerin wie zum Beispiel Jolanta Pajak für die Rolle der Marie
begeistern, muss man zu solch kleinen Tricks greifen.«
Das
schien Harry Hartung zu verstehen. Er nickte und gab dem Kellner ein
Handzeichen für den nächsten Cognac.
Ich
nutzte die dadurch entstandene kurze Pause. »Zu Beginn war der Handlungsort
tatsächlich etwas ungewohnt für mich, aber nach dem ersten Akt hatte ich mich
daran gewöhnt. Ich denke übrigens, dass viele Aussagen Goethes immer noch
Gültigkeit haben und in unsere Zeit passen. Man muss sie nur an die heutigen
Verhältnisse adaptieren und genau das haben Sie getan. Der karrierebewusste
Mann, der sein Heiratsversprechen widerruft, war und ist eine interessante
Figur. Mir hat es jedenfalls sehr gut gefallen!«
»Das
Abwägen zwischen Beruf und Familie, so würde man es heute bezeichnen«, ergänzte
Hanna. »Vor einigen Jahren gab es eine Fernsehshow mit dem Titel ›Geld oder
Liebe‹, dieser Titel hätte auch gut zu Goethes ›Clavigo‹ gepasst.«
Während
der Intendant und der Regisseur sich bedankten, tauchte plötzlich ein Mann
neben Hanna auf. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, auf einmal stand er da, groß
und gerade, wie aus dem Boden gewachsen. »Gnädige Frau, das haben Sie
hinreißend gesagt. Ich bewundere Ihre Gabe, die Natur der Dinge mit wenigen
Worten zu benennen!« Damit nahm er Hannas Hand und gab ihr einen angedeuteten
Handkuss.
Übertriebene
Eifersucht zählte sicher nicht zu meinen Eigenschaften als Ehemann, aber
irgendwie gefiel mir diese Szene nicht. Und auch Hanna war das Getue um den
Handkuss sichtlich unangenehm.
Der
Unbekannte machte eine kleine Verbeugung. »Ich darf mich vorstellen: Reinhardt
Liebrich. Ist es gestattet, dass ich mich zu Ihnen geselle?«
Benno
sah ihn erstaunt an. »Herr Liebrich, was … ich meine, was machen Sie denn
hier?«
»Nun,
Verehrtester, ich vernahm zufällig vom Nebentisch Ihre interessante Diskussion
und als Theatermensch kann ich mich dem natürlich nicht entziehen, ich bitte um
Vergebung, falls ich ungelegen komme.«
Dabei
sah er Hubertus von Wengler an. Dieser machte eine seltsame Handbewegung,
irgendetwas zwischen Einladung und Abwehr. »Nun dann, Reinhardt, setz dich
bitte!«
Direkt
neben Benno war noch ein Stuhl frei. Der Eingeladene nahm Platz. Er hatte
extrem kurz geschnittene grau melierte Haare und trug eine Nickelbrille. Sein
Verhalten zeigte keinerlei Anzeichen von Unsicherheit.
»Ich
darf Ihnen Reinhardt Liebrich vorstellen«, sagte von Wengler, »wir haben vor
einigen Jahren in Leipzig zusammengearbeitet, er ist auch … er ist
Theaterregisseur. Zuletzt hatte er ein Engagement am Frankfurter Schauspiel.«
Hanna
und ich sahen uns kurz an. Etwas Unangenehmes lag in der Luft und sie schien es
ebenso zu spüren wie ich. Während sich Liebrich und von Wengler über ihre
gemeinsame Zeit in Leipzig unterhielten, stand ich auf, um zur Toilette zu
gehen. Benno warf mir einen Blick zu. Wir trafen uns im Vorraum am Waschbecken.
»Was
ist das denn
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