Götterdämmerung (German Edition)
Miniatur-Suchscheinwerfer über Bens Gesicht wandern, obwohl die Gasse hell beleuchtet war. „Er ist es“, sagte der Fremde. „Bringen wir es hinter uns!“
„Was wollt ihr von mir?“, fragte Ben. „Was … was …“ Er hob instinktiv die Hände.
„Was, was“, äffte ihn der Mann mit der Pistole nach. Sein Lachen klang falsch und entstellte das ungepflegte Gesicht noch mehr. Der Mann hatte eine auffällig gerötete Haut und bis auf ein paar braune Stummel keine Zähne mehr. Sein Atem roch nach Knoblauch und Alkohol.
„Durchsuch ihn, Mac!“, befahl der Mann mit dem Messer.
Der Kräftige stellte seine Taschenlampe auf den Boden. Dann steckte er seine Finger in Bens Jackentasche und fand das Notrufgerät. Er warf es auf die Straße und trat ein paar Mal mit seinen schweren Stiefeln darauf. Anschließend schleuderte er das Gerät in ein Gebüsch am Straßenrand. Er durchsuchte auch Bens Hosentaschen, ließ dann aber von ihm ab, weil sie leer waren.
Ben drehte sein Gesicht zur Seite. Er wollte weg. Bloß weg von hier, aber wie? Er sah kaum eine Möglichkeit, an den Männern vorbei zu kommen. Wie sehr wünschte er sich jetzt eine Geheimtür, so wie es sie manchmal im Film gab. Durch so eine Tür könnte er einfach verschwinden. Aber die Wand in seinem Rücken gab keinen Millimeter nach.
Wieder lachte der rotgesichtige Mann. Ben starrte wie hypnotisiert auf diesen grässlichen zahnlosen Mund und schüttelte den Kopf.
Ich darf nicht warten, redete er sich zu . Nicht warten, bis er abdrückt.
Wenn er überhaupt noch eine Chance hatte, dann jetzt. Er brauchte nur in ihre Augen zu sehen. Die meinten es ernst. Auch wenn Ben nicht wusste, weshalb. Er hatte die Männer noch nie zuvor gesehen.
Er nahm all seinen Mut zusammen und spuckte dem Mann mit dem Messer ins Gesicht. Der kniff für den Bruchteil einer Sekunde die Augen zusammen und fluchte. Der Junge duckte sich mit einer blitzschnellen Bewegung unter dem Messer weg und trat dem Rotgesichtigen so kräftig er konnte zwischen die Beine. Der Mann brüllte auf, ließ seine Pistole fallen und krümmte sich. Der Kräftige packte Ben am Jackenkragen, doch der riss mit einem lauten Ratsch ab.
Ben rannte. Rannte so schnell er konnte die Gasse entlang. Weg von den Männern und dem parkenden Motorroller. Er hoffte, dass er wenigstens einen kleinen Vorsprung bekam. Nur ein paar Straßen weiter befand sich der Fluss. Dort war der Stadtpark. Dort konnte er sich verstecken. Vorausgesetzt, er schaffte es bis dorthin.
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Vera Maiwald stand mit verschränkten Armen am Schlafzimmerfenster im zweiten Stock der Villa und tippte unruhig mit dem Fuß. Sie hatte bereits ihr Nachthemd angezogen und trug darüber nur einen dünnen Morgenmantel. Die Straße vor ihrem Haus lag wie die ganze Stadt in hellem Licht, sodass sie die Umgebung gut erkennen konnte, doch die Fußwege waren menschenleer. Keine Spur von Ben.
Dabei hätte er bereits vor zwanzig Minuten zu Hause sein müssen! Zwanzig Minuten, das klang nicht allzu beunruhigend, aber bisher war ihr Sohn immer zuverlässig gewesen. Und noch etwas machte ihr Angst: Das Ortungsgerät, das in sein Notrufgerät integriert war, sendete nicht. Es musste ausgefallen sein.
Vera ließ sich auf ihr Bett sinken. Wieso um alles in der Welt hatte sie Ben bloß gehen lassen? Sie wusste doch, wie riskant das war. Sie stand wieder auf. Sah erneut aus dem Fenster, aber das einzige Lebewesen, das sich draußen bewegte, war der graue Kater ihres Nachbarn.
Sie betätigte die automatische Fensterverdunkelung. Die Scheibe nahm einen kohlefarbenen Ton an. Unruhig lief Vera ein paar Mal hin und her, dann hielt sie es nicht mehr aus und machte sich auf den Weg nach unten. Das Erdgeschoss bestand aus einem großen offenen Raum, lediglich der Flur war durch eine Tür abgetrennt. Ein Torbogen trennte den Wohnbereich von der Küche.
In einem Ledersessel saß ihr Mann Hendrik mit ausgestreckten Beinen und las in seinem E-Panel, einem Gerät, das Kommunikator, Computer und interaktive, flexible Oberfläche vereinte. Im Kamin glühten die Reste eines Feuers. Kleine blaue Flammen fraßen die letzten Fasern der Holzscheite. Derek, der Hausroboter stand im Ruhemodus in seiner Ecke. Seine Oberfläche aus weißem Kunststoff hatte sich mit den Jahren gelblich gefärbt, er funktionierte jedoch immer noch tadellos.
„Ich mache mir Sorgen“, meinte Vera. „Ben ist schon so lange weg.“
Hendrik winkte ab. „Er weiß schon, was er tut“, murmelte er.
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