Götterdämmerung (German Edition)
rechten durchtrennte er seinen Hals. Dann ließ er den Körper auf den Boden fallen und lief über den weiten Platz der Ausfahrt entgegen.
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Ben versteckte sich unter den Flügeln eines steinernen Drachen, einem Denkmal, das seit zwei Jahrhunderten am rechten Flussufer stand und die Gegend mit seinen leblosen Augen beobachtete. Der Drachenkörper ruhte auf einem hohen Sockel, den Ben nur mit viel Mühe erklommen hatte. Immerhin hatte er es bis hierher geschafft. Nun kauerte er in dem engen Spalt zwischen Flügeln und Rumpf und hoffte, dass die Männer an dem Denkmal vorbeilaufen würden.
Er hasste sein enges dunkles Versteck, in dem er sich kaum rühren konnte. Er hatte enge fensterlose Räume immer gemieden. Lieber war er zwanzig Etagen die Treppe hoch gelaufen, als in einen Fahrstuhl zu steigen. Einmal wollte sein Vater sich mit ihm ein altes U-Boot ansehen, aber Ben hatte es nicht geschafft, auch nur die ersten Stufen durch die Einstiegsluke zu nehmen. Sobald sein Körper in das diffuse Licht im Inneren des Bootes eingetaucht war und der letzte Rest Tageslicht aus seinem Blick zu schwinden drohte, hatte er das Gefühl, zu ersticken. Als ob er in eine Gruft hinabstiege, die ihn für immer einschloss.
Er versuchte, das erdrückende Gefühl zu verdrängen und spähte an den Flügeln des Drachen vorbei nach draußen. Inzwischen war es Nacht geworden. Sein Chronometer zeigte 21 Uhr 47. Der Wind fegte kalt um die Steine, kroch durch Spalten und blies tote Blätter in die Ecken und Winkel des Denkmals. Wenigstens war es hier trocken.
Jeden Moment mussten die Männer auftauchen.
Vielleicht finden sie mich nicht und geben auf , hoffte Ben. Er beugte sich ein Stück vor. Die Straßenlampen tauchten den Uferweg in helles Licht. Die Straßen und Häuser weiter oben am Berg wurden ebenfalls beleuchtet. Seit die ersten Kernfusionskraftwerke ans Netz gegangen waren, musste keine Energie mehr gespart werden. Im Moment wünschte Ben sich jedoch, es gäbe keine Lampen.
„Komm her!“, hörte er jemanden ganz in der Nähe rufen. „Komm her, wir erwischen dich sowieso!“
Der Junge kroch zurück unter den Flügel. Sein Herz pochte so laut, dass er befürchtete, dieses Geräusch allein könnte ihn verraten. Er musste sich zwingen, in seinem Versteck zu bleiben. Am liebsten wäre er einfach losgerannt.
Unten näherten sich Schritte. Ben hörte das Geräusch rollender Kieselsteine. Dann war es eine Weile still.
„Was machen wir jetzt?“, fragte eine Stimme direkt unter dem Denkmal. Ben erkannte sie sofort. Sie gehörte dem Mann mit dem blauen Messer.
„Der kann nicht weit sein“, erwiderte jemand. „Habt ihr alles abgesucht?“
„Wie willst du alles absuchen, du Idiot? Das ist keine Sackgasse hier.“
„Wieso habt ihr ihn auch entwischen lassen? Jetzt sind wir aufgeschmissen.“
Einer der Männer trat wütend gegen das Denkmal.
„Keine Zeugen, Vince“, murmelte jemand.
„Was?“
„Hat Olli gesagt.“
„Ach, halt doch die Klappe!“, erwiderte Vince, der Mann mit dem Messer. „Wir fangen ihn später ab. Gib mal die Liste her!“
Namen, die Ben nichts sagten, wurden gemurmelt.
„Da ist es“, hörte er Vince sagen. „Ahornweg dreizehn. Das ist gleich um die Ecke. Wir schnappen ihn uns dort.“
„Und wenn sich jemand einmischt? Du weißt doch, was Olli gesagt hat.“
„Ja. Keine Zeugen, na und? Macht sie kalt!“
Ben hörte, wie die Männer sich gegenseitig aufmunterten. Dann entfernten sich die Schritte. Die Stimmen wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Die Männer waren an seinem Versteck vorbei gegangen. Aber sie waren nicht verschwunden. Nicht für immer.
Wie gelähmt kauerte Ben in seiner Nische. Woher kennen sie meine Adresse?
Dann schoss ein neuer Gedanke durch seinen Kopf. Ich muss nach Hause! Sie werden ihnen etwas antun!
Er sprang von dem Sockel auf die Wiese. Der Aufprall war so heftig, dass die Beine unter ihm nachgaben und er mit dem Oberkörper zu Boden stürzte. Erschrocken drehte Ben den Kopf nach allen Seiten. Hoffentlich hatten die Männer nichts gehört. Hoffentlich kamen sie nicht zurück. Aber der Uferweg blieb leer.
Ben stand auf und schlich abseits des Weges nach Hause. Wenn er den Männern nicht direkt in die Arme laufen wollte, musste er einen Umweg einplanen. Hoffentlich kam er nicht zu spät.
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Nadja Bergmann war müde. Sie hatte bereits vor vier Stunden nach Hause gehen wollen, was immerhin einem Zwölfstundentag entsprach, aber dann
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