Götterfall
unwegsamer. Natürlich hätte sie den offiziellen und vergleichsweise ebenen Weg wählen können, doch der machte eine ausladende Kurve und war sicher hundert Meter länger, also wagte sie die Kletterpartie querfeldein über die Felsen bis zu der Stelle, an der das Gletscherwasser ein Loch ins Gestein gewaschen hatte. Über diese schmale Brücke gelangte man am schnellsten zum Ort des Geschehens. Wenckes Hände begannen erneut zu bluten, als sie sich an einem Stein festzuhalten versuchte, das Erklimmen der Felsbrocken kostete ihre Beine die allerletzte Kraft. Sie riss sich noch einmal zusammen, sie hievte sich noch einmal nach oben, wurde erst auf den letzten Metern langsamer. Ihr war klar, dass Hektik in dieser Szene nichts zu suchen hatte. Dafür standen fünf Menschen viel zu nah am Abgrund.
Und dann bemerkte Wencke den Mann, den sie für den wahren Regisseur dieses letzten Aktes hielt. Was machte er da? Jarle war überhaupt nicht bei der Sache, sondern schaute ganz woanders hin, in Richtung Straße. Er sah aus, als warte er auf etwas.
Urbich ließ den Lautsprecher sinken, er hatte seine Rede beendet. Niemand klatschte, warum auch, eine Wahrheit wie diese hatte keinen Applaus verdient. »War es das?«, fragte er mürrisch. »Zufrieden?«
Niemand konnte zufrieden sein. Dazu gab es noch immer zu viele Fragen.
»Was ist mit meiner Mutter?«, wollte Lena wissen.
»Ich habe keine Ahnung, was mit ihr ist«, sagte Urbich.
»Ihr habt sie umgebracht, weil sie dabei war, die ganze Wahrheit herauszufinden!«
»Das ist Blödsinn! Natürlich haben wir Dorothee Mahlmann in den Tagen nach dem Mord beobachten lassen. Schließlich hatten wir den begründeten Verdacht, dass sie mit Frank-Peter Götze gemeinsame Sache gemacht hatte. Wir waren uns aber schnell sicher, dass diese Vermutung unzutreffend war.«
Noch hatte niemand bemerkt, dass Wencke sich dazugesellt hatte, aber nun wagte sie sich aus der Deckung. »Er sagt die Wahrheit, Lena!« Alle starrten sie an – okay, ihre Jeans war zerschlissen, Vulkanstaub bedeckte ihren Körper, teilweise waren die schwarzen Partikel fest mit ihrem Schweiß verklebt, sie sah womöglich aus wie ein Troll. »Inzwischen habe ich mit meinem Kollegen telefonieren können. Der Experte für Grafologie hat meine Vermutung bestätigt: Die Handschrift in den Notizen ist gefälscht, sämtliche Aufzeichnungen wurden ganz sicher nicht von deiner Mutter verfasst.«
»Das kann nicht sein!« Lena sah furchtbar verzweifelt aus. Wencke hätte das gern vermieden. Es tat ihr leid, ein Idealbild zu zerstören, an das diese junge Frau so gern geglaubt hätte. Doch es gab diese heldenhafte Doro nicht, die sich allein gegen eine riesige Verschwörung gestellt hatte. Es hatte sie nie gegeben. Dafür gab es eine andere Heldin, die im Wachkoma noch alle Kräfte gesammelt hatte, um ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Dass dies eine wesentlich beeindruckendere Leistung war, würde Lena Jacobi hoffentlich eines Tages begreifen.
»Von wem stammen die Notizen denn dann? Haben Sie dafür auch eine tolle Erklärung?«
Wencke zeigte auf Jarle, doch der schien noch immer aufetwas ganz anderes zu achten. Sie folgte seinem Blick. Da parkte ein Auto halb versteckt hinter einem kleinen Hügel. Es war Jarles Geländewagen. Am Steuer saß ein Mann. Zwar waren die Scheiben verspiegelt und man konnte das Gesicht kaum erkennen, doch Wencke hätte schwören können, es war derselbe rotblonde Mann, vor dem sie heute Nacht geflohen war. Der Wagen blendete zwei Mal auf. Ein Zeichen?
Lena hob gerade die Tüte auf, öffnete sie und nahm etwas heraus – ein Bündel Tausend-Euro-Scheine. Sie löste die Banderole. Anscheinend war nichts von dem, was Wencke ihr gerade erzählt hatte, angekommen. »Das ist das Geld, was ihr euch habt zahlen lassen. Darum ist diese ganze Geschichte passiert. Wenn Sie jetzt das Geld in den Wasserfall werfen, dann …«
»Vorsicht!«, rief Wencke, doch sie hatte nicht schnell genug reagiert, denn plötzlich sprang Jarle auf Lena zu und griff nach der Tüte. Er sah keineswegs so aus, als wäre für ihn an dieser Stelle irgendeine Geschichte zu Ende erzählt. Im Gegenteil, es war ihm anzusehen, wie sicher er sich war, dass für ihn in diesem Moment eine ganz neue Sache begann.
»Was soll das?«, schrie Lena noch, kurz bevor er sie grob zu Boden stieß. Ihr Kopf knallte hart gegen den Felsen und sie rollte, für einen kurzen Augenblick anscheinend bewusstlos, auf den Abgrund zu. Nur eine Handbreit
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