Götterfall
Wesen in brenzligen Situationen zum Beispiel. Und die Unpünktlichkeit. Sie waren fast eine halbe Stunde zu spät, hielten eine Entschuldigung deswegen jedoch für absolut überflüssig. Aber immerhin reichten sie Wencke wohlerzogen die Hand. Bei Götze wirkte das fast schon absurd.
»Wie geht’s?«, fragte er. Als ob ihn das wirklich interessierte.
Wencke hatte die Wartezeit dazu genutzt, sich einen Lageplan zu besorgen. Der Stöckener Friedhof war riesig, ohne Navigationshilfe konnte man sich glatt zwischen den mehr als hunderttausend Grabstätten verlaufen. Das Feld A28 lag irgendwo links vom Eingang weiter hinten in der Nähe des kleinen Sees. Keiner von ihnen hatte an einen Regenschirm gedacht, also wurden sie schon nach wenigen Schritten furchtbar nass und ihre Schuhe schmatzten auf dem durchweichten Pfad.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, brachte Lena dann endlich hervor. »Überhaupt, danke für alles!«
»Schon okay«, sagte Wencke.
»Ich meine, Sie hätten das nicht tun müssen. Nach allem, was wir Ihnen zugemutet haben.«
Das stimmte, Wencke hätte die seltsame Einladung zum heutigen Treffen ohne Weiteres ausschlagen können. Sie schuldete dieser jungen Frau rein gar nichts. Vier Wochen waren vergangen, seit sie Lena vor einem Messer und dem Sturz in denGötterfall bewahrt und ihr damit das Leben gerettet hatte. Vielleicht eine Heldentat, doch was interessierte das den Rest der Welt? Die Medien stürzten sich ausnahmslos mit Feuereifer auf Hüffarts Selbstmord, das war die Sensationsmeldung, ganze Bilderserien von seinem Staatsbegräbnis in Bad Iburg waren im Internet zu bestaunen. Silvie hatte ein albern schräges Hütchen mit gepunktetem Schleier vor dem Gesicht getragen und war am Grab dramatisch zusammengebrochen. Todschick!
Jarles vereitelter Diebstahl hingegen war nur eine Randnotiz wert gewesen. Ein Mitarbeiter eines der weltweit größten Aluminiumkonzerne hat versucht, seine Firma um 3 Millionen Euro zu erpressen. Bei der Geldübergabe in Island, bei der es zum tragischen Suizid des ehemaligen Parteivorsitzenden Karl Hüffart kam (siehe großer Bericht Titelseite und Sonderteil), wurden der Ingenieur Jarle Y. und sein im Auto wartender Komplize jedoch festgenommen. Als Motiv gibt die isländische Polizei einen Streit um ein Firmenpatent an.
Mehr erfuhr die Öffentlichkeit nicht. Vermutlich hatte Urbich mal wieder seinen Einfluss geltend gemacht. Hauptsache, AlumInTerra geriet nicht zu weit in den Fokus.
Was mit Jarle inzwischen passiert war, wusste Wencke nicht. Wollte sie auch gar nicht wissen. Sie hatte Zeit genug gehabt, ihre umfassende Zeugenaussage bei der isländischen Polizei zu tätigen, da sie sich nach den Vorfällen am Wasserfall noch weitere drei Tage gedulden mussten, bis das Flugverbot aufgehoben war. Und wenn sie irgendwann einmal als Zeugin bei seinem Prozess geladen würde, müsste sie den ganzen Mist dann eben noch einmal erzählen. Alles schön der Reihe nach: von Jarles Versuchen, sie für sich zu vereinnahmen, sie zu beeinflussen und auszunutzen, bis zu dem Moment, als Jarle dann am Götterfall plötzlich sein gieriges Gesicht gezeigt hatte.
Am gravierendsten würde bei der Anklageschrift wohl der Mordversuch am Gletschersee eingestuft werden, den Jarle regelrechtin Auftrag gegeben hatte. Wie hatte er noch gleich gesagt: In Island ist man entweder verwandt oder verheiratet. Der erfolglose Auftragskiller mit dem rotblonden Haar war Jarles Cousin, der sehr wenig Geld und vermutlich noch weniger Grips hatte und bereit gewesen war, für seinen erfolgreichen Vetter die Drecksarbeit zu erledigen. Ob es sich bei dem Vorfall am Gletschersee tatsächlich um einen Mordanschlag oder nur um einen Einschüchterungsversuch handelte, hatte demnächst ein Richter zu entscheiden. Doch das Motiv war eindeutig: Jarle musste sich so sehr vor Wenckes Knowhow als Fallanalytikerin gefürchtet haben, dass ihm dieser Schubs vom Boot als Ausweg erschienen war. Womit er ja gar nicht so danebengelegen hatte: Wäre Wencke an diesem Tag im Jökulsárlón ums Leben gekommen, dann wäre sein Plan, den Ruf des Konzerns zu schädigen und anschließend mit den drei Millionen durchzubrennen, höchstwahrscheinlich gelungen.
Von der Liebesnacht wusste außer ihnen beiden bislang niemand. Jarle hüllte sich seit seiner Verhaftung komplett in Schweigen – und Wencke war froh darum. Sie schämte sich dafür, dass ein Teufel wie Jarle sie mit so billigen Methoden verführt hatte. Bloß weil er sie
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