Götterfall
Gelände war steil und unwegsam, die alten Kalksteinbrüche ließen sich nur schwer erreichen. Du hattest irgendwann die Idee, dass wir uns trennen könnten und dann immer eine oben und eine unten entlang läuft, um die ewige Kletterei zu sparen.«
»Was wird das hier, eine Märchenstunde?« Silvie begann zu singen: »Wencke und Silvie verirrten sich im Wald, es war so finster und auch so bitterkalt …«
Wencke hatte einen ovalen Stein ausgemacht, der am Rand des Weges stand und auf dem unter grünlich schimmerndem Belag altertümliche Schriftzeichen prangten. »Unser Treffpunkt war an diesem alten Klosterstein. Ab hier bist immer du unten entlanggegangen, obwohl das der anstrengendere Weg gewesen ist. Als ich dir angeboten habe, mal die Strecken zu tauschen, hast du dich strikt geweigert.« Wencke zog Silvie mit sich, als sie vom Weg abbog, um links vom Steinbruch an den Bäumen entlang nach unten zu gehen.
Hier wuchsen überwiegend Buchen, ihre grünlichgrau schimmernden Stämme standen wie lange Pfähle eng nebeneinander, erst ganz weit oben bildeten die dichten Blätter ein hellgrünes Dach, durch das der Sommer zu erkennen war. Je weiter sie nach unten schlitterten, desto dunkler wurde der Wald. Tannen oder Fichten, den Unterschied hatte Frankie noch nie erkennen können, doch ab hier begann ein Areal aus Nadelhölzern und ungefähr dreißig Meter vom bemoosten Steinbruch entfernt stand das kleine, runde Ding aus Beton. Schon damals hatte Frankie keine Ahnung gehabt, was genau das überhaupt darstellen sollte. »Hier habe ich den Jungen abgesetzt«, sagte er und Wencke nickte.
Jan und er waren an diesem Tag von unten her über einen steilen Jägersteig nach oben geklettert. Im Januar hatte der Wald ein völlig anderes Gesicht gezeigt. Weniger freundlich.
Von den Ästen tropfte an einigen Stellen Tauwasser herab, nur ein bisschen weiter oben wurde es dann kühler und es hingen noch kleine Eiszapfen im Gehölz. Frankie hatte unter seiner Wollmaske dermaßen geschwitzt, dass die Haut schon zu scheuern begann, doch er wollte unerkannt bleiben, damit der Knirps nicht am Abend bei den Bullen ein astreines Phantombild anfertigen lassen konnte. »Wohin bringen Sie mich?«, hatte Jan gefragt. Frankie hatte ja kein besonderes Ziel gehabt, irgendwo im Wald eben, wo man ihn schnell finden würde. Er mochte den Jungen. Er war gar nicht so ein verwöhnter Rotzlöffel, wie Frankie vermutet hatte, nein, Jan Hüffart hatte seine Entführung mit einer bemerkenswerten Demut über sich ergehen lassen, hatte das Toastbrot mit Margarine genauso akzeptiert wie die nackte Matratze auf dem Fußboden der dunklen Mietwohnung. Und auch diese Tour den Langenberg hinauf steckte er weg. Ganz ehrlich, so ein Kind bringst du nicht um. Nicht, dass Frankie es jemals vorgehabt hätte. Aber all die Jahre im Knast hat er gedacht, wer so was übers Herz bringt, so ein Kind und dann einfach mit dem Messer … Undenkbar!
Nach einer halben Stunde oder so waren sie zu dieser kleinen Lichtung gelangt, die zwischen Laub- und Nadelwald am Fuße eines alten Steinbruchs lag. Das war gut zu beschreiben. Und dann stand da eben dieses kleine Ding, einem Turm ähnlich, aber eben nur zwei Meter hoch. »Wir sind angekommen«, hatte Frankie gesagt und Jan auf den Betonsockel gesetzt und gefesselt. »Bleib hier, rühr dich nicht von der Stelle, ich werde deine Eltern informieren, wo du bist, und dann holen sie dich wahrscheinlich noch bevor es dunkel wird.«
»Ich hab aber gar keine Angst im Dunkeln.«
»Umso besser.«
»Hat mein Vater Ihre Forderungen erfüllt?«, wollte Jan wissen.
»Ja, hat er.«
»Ich wusste es. Ich wusste, dass mein Vater alles tun wird, um mich zu retten.«
Das hatte fast so gewirkt, als sei der Junge selbst ganz zufrieden mit diesem Liebesbeweis gewesen. Er wusste, er war seinem Vater wichtiger als alles andere. Wenn Frankie sich richtig erinnerte, hatte Jan in diesem Moment sogar gegrinst. Dann war Frankie gegangen und der Junge hatte ihm noch hinterhergerufen: »Danke, dass Sie mich am Leben gelassen haben!«
Jetzt stand Frankie auf dem weichen Laub und schaute die beiden Frauen an. »Ich habe ihn nicht ermordet!«, sagte er und war sich plötzlich sicher, dass er diesen Satz zum allerletzten Mal in seinem Leben gesagt hatte.
[16. Juli, 18.19 Uhr, Langenberg, Bad Iburg, Deutschland]
Silvie trug nicht die richtigen Schuhe. Das war seltsamerweise ihre einzige Sorge in diesem Augenblick. Dass die teuren Lederschuhe in diesem
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