Götterfall
Ecke erkannte man goldene Lettern und den Teil eines verschnörkelten Titelbilds, der einen Baum zeigte, einen riesigen Baum mit weit reichenden Ästen und Wurzeln, die an den Seitenrändern wieder zueinander fanden und einen Kreis bilden. Yggdrasil …?
»Darf ich dieses Bild mitnehmen, Frau Mahlmann?«
Die Angesprochene horchte auf, sie war gerade dabei gewesen, Lena und Götze zu erzählen, wie gut Doro in der Schule gewesen war, obwohl sie dafür keinen Handschlag getan hatte, und wie chaotisch ihr Zimmer ausgesehen hatte. »Warum?«
»Ich gebe es Ihnen bestimmt bald zurück, ich würde es nur gern in unserem LKA-Labor vergrößern lassen.«
»In Ordnung.«
»Und Frankie …?«
Götze brummte.
»Wärest du bereit, eventuell heute Nachmittag mit mir nach Bad Iburg zu fahren?«
[16. Juli, 16.44 Uhr, Bischof-Benno-Straße,
Bad Iburg, Deutschland]
Damals war Wencke nie hier gewesen, aber sie hatte rein theoretisch gewusst, wo Hüffarts Bungalow stand. So wie es eben ist, wenn in einer eher unspektakulären Kleinstadt ein echter Promi lebt und jeder den Ortsnamen mit einem Fernsehgesicht verbindet. Die meisten Deutschen wissen nicht besonders viel über Leimen, außer dass Boris Becker dort seine ersten Tennisbälle übers Netz gehauen hat. Und Bad Iburg war eben das beschauliche Städtchen im Teutoburger Wald, in dem der bedeutende Karl Hüffart gelebt hatte.
Die Buchsbaumhecke schottete das Grundstück ab, eine meterhohe Betonmauer hätte nicht abweisender sein können. Das trotzige Grün wurde mittig von einem Metalltor unterbrochen, dessen lange Spitzen unschöne Assoziationen in Wencke weckten. Das Haus dahinter wirkte überraschend klein. Ein Bungalow eben, aus den Steinen gebaut, die man zur Glanzzeit der Bungalowarchitektur favorisierte: dunkelbraune, grobe Klinker. Auf den Steinstufen verteilten Geranien in bauchigen Kübeln ein bisschen Farbe. Man hatte an einer Seite Metallschienen angeschraubt, wahrscheinlich für den Rollstuhl, der ja nun von niemandem mehr geschoben wurde. Ein Haus, in das Wencke für kein Geld der Welt würde einziehen wollen, dann lieber Wohnwagen.
Sie stieg aus dem Auto und drückte den messingfarbenen Klingelknopf. Silvie könnte natürlich so tun, als wäre sie nicht da, durch die getönten Scheiben wäre sie nicht einmal zu erkennen.Doch dann würde Wencke einfach eine Runde spazieren fahren und anschließend wiederkommen, Zeit hatte sie heute genug und die Regenwolken waren schon kurz hinter Bad Oeynhausen verschwunden. Wencke klingelte ein zweites Mal. Es passte irgendwie zu Silvie, dass sie sich eiskalt in ihrem Spießerhaus verbarrikadierte und weit gereiste Ex-Polizeischulkameradinnen draußen vor dem Tor versauern ließ.
Wencke wandte sich gerade zum Gehen ab, da quakte es durch die Sprechanlage: »Ja bitte?« Eine Männerstimme, das musste der Sekretär sein, mit dem sie schon einmal telefoniert hatte.
»Hier ist Wencke Tydmers. Ich bin eine alte Bekannte von Silvie und …«
»Frau Hüffart ist nicht zu sprechen.« Er klang, als wären seine Worte auf Glatteis unterwegs.
»Das habe ich mir gedacht. Ich warte dennoch eine Minute, und wenn Silvie ihre Meinung bis dahin nicht ändert, dann komme ich schon sehr bald wieder, jedoch mit einem richterlichen Beschluss in der Tasche und einem solchen Pulk an Polizisten, dass es niemandem in Bad Iburg entgehen wird.«
Der Öffner summte und das Gartentor schob seine mörderischen Spieße einen Spalt weit auseinander. So einfach war das? Wencke schlich sich fast vorsichtig auf das Grundstück. Sie registrierte die Kameras überall, die kleinen Lichtschranken links und rechts des Weges, die engmaschigen Gitter vor den Fenstern. Ob Silvie diese Dinge jetzt, nach Hüffarts Tod, wieder abmontieren ließ? Nur kurz musste sie vor der Tür verharren, dann wurde auch diese ihr automatisch aufgetan und gab den Blick in einen unbeleuchteten Flur frei.
»Was willst du?« Silvie hob ihre Hand über die Augen, wohl um das ihr plötzlich entgegenstrahlende Tageslicht nicht an ihr Gesicht zu lassen. Sie trug eine Art Hausanzug und war blass, aber das mochte durch das Schwarz der Kleidung nochverstärkt werden. Ihre Haare lagen auf dem Kopf wie Sauerkraut.
»Darf ich reinkommen?«
»Meinetwegen. Aber fass dich kurz, ich habe zu tun. Du ahnst nicht, wie viel Arbeit es macht, einen Nachlass zu sortieren.«
Silvie führte Wencke in das Wohnzimmer, das noch immer auf die Pflegebedürftigkeit seines ehemaligen Bewohners eingestellt
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