Goettersterben
zurück, sondern kniete – wider besseres Wissen – neben dem Henker nieder und drehte ihn auf den Rücken. Der Eindruck, den er von dem Mann gewonnen hatte, war richtig. Er war stark, und er war zäh. Das Leben rann in schaumigen roten Strömen aus seiner aufgerissenen Kehle und seinem Mund, und über seine weit geöffneten Augen hatte sich bereits eine vage Dunkelheit gelegt, aber noch klammerte er sich mit aller Kraft an das verlöschende Leben.
Andrej nahm es ihm. Die Kraft, die in diesem Mann war, würde ohnehin vergehen. Noch zwei oder drei Herzschläge und ein qualvoller Atemzug, der seine Lungen nicht mehr erreichen würde, und dieser kostbare warme Schatz war dahin, verloren für alle Zeiten. Verschwendet. Er bestahl ihn nicht, wenn er ihm etwas nahm, das er nicht mehr brauchte.
Andrej wusste, dass er sich selbst belog, dass es falsch und verboten war, was er tat, aber er konnte nicht anders. Mit unsichtbarer Hand griff er nach der Lebensflamme des Henkers, riss sie aus ihm heraus und fügte auch seine Kraft seiner eigenen hinzu. Und diesmal war der verbotene Trank süß und stark. Ihn schwindelte, als hätte er einen Becher starken Branntwein zu schnell heruntergestürzt, aber auch dieses Gefühl verging fast ebenso schnell, wie es gekommen war.
Als er die Augen wieder öffnete, begegnete er dem Blick der dunkelhaarigen Frau. Sie hatte aufgehört zu weinen, und sie kniete auch nicht mehr vor dem zertrümmerten Bett, sondern hatte sich über das zweite Kind gebeugt. Andrej konnte es nicht sehen, so wie sie über das Bett gebeugt dastand. Dennoch wusste er: Die beiden einzigen Herzen, die in diesem Raum noch schlugen, waren sein eigenes und das der Henkersfrau. Andrej fuhr auf dem Absatz herum, trat durch den gewaltsam geschaffenen Wanddurchbruch ins Nebenzimmer und beugte sich über den noch immer wie tot daliegenden Vampyr. Er wartete, bis das Leben wieder in seinen Körper zurückgekehrt war, dann nahm er es ihm wieder.
Und diesmal endgültig.
Er wartete darauf zu empfinden – irgendetwas. Aber in ihm war nichts; eine sonderbare Leere, ein schaler Nachgeschmack, als wäre das Leben, das er gerade genommen hatte, verdorben gewesen, und auch dieses Gefühl verging, bevor er sich dessen ganz sicher sein konnte. Er sollte Schuld empfinden. Zorn. Irgendetwas. Aber da war nichts.
Andrej stand auf, trat mit zwei schnellen Schritten an der Frau vorbei und drehte sich gerade noch rechtzeitig genug herum, um zu sehen, wie sich der Vampyr wieder erhob und mit einem Hechtsprung durch das geschlossene Fenster verschwand.
Andrej war mit einem einzigen Satz im Nebenzimmer und dann hinter ihm her, noch bevor die Glas- und Holzsplitter unten auf der Straße aufschlugen. Er landete buchstäblich in den Fußstapfen des Vampyrs, fing den Schwung seines Sprunges mit einer eleganten Rolle ab und kam noch rechtzeitig genug auf die Füße, um zu sehen, wie der Vampyr am Ende der Straße abbog und dabei noch einmal an Tempo zuzulegen versuchte. Andrej tat dasselbe, verringerte den Abstand zwischen sich und dem flüchtenden Briten mit einigen weit ausgreifenden Schritten auf weniger als die Hälfte und sah ihn abermals verschwinden, als er das Ende der Straße erreichte; diesmal nicht an der nächsten Abzweigung, sondern in einem schmalen Durchlass zwischen zwei Häusern. Vermutlich hoffte er, in dem Labyrinth aus Hinterhöfen, Gärten und Gässchen unterzutauchen, das sich dahinter verbarg.
Andrej legte noch einmal an Tempo zu, um ihn einzuholen, hörte aber schon nach wenigen Sätzen, wie die Schritte des Vampyrs abbrachen und er einen gedämpften Fluch in seiner Muttersprache ausstieß. Ganz offensichtlich hatte sich sein vermeintlicher Fluchtweg als Sackgasse erwiesen.
Ohne langsamer zu werden, stürmte Andrej hinter ihm in die Gasse, die sich nach kaum fünf Schritten zu einem rechteckigen, an allen Seiten von mehr als fünf Meter hohen und fensterlosen Wänden umschlossenen Innenhof weitete. Es gab eine einzelne Tür, die aber verschlossen und massiv genug war, um selbst den verzweifelten Bemühungen des Vampyrs zu widerstehen, sie aufzubrechen.
Andrej war hinter ihm, noch bevor er es auch nur bemerkte, stieß ihm Gunjir in die Flanke und riss das Götterschwert in der gleichen Bewegung wieder heraus, in der er zurück und einen Schritt zur Seite trat, um einem eventuellen Gegenangriff auszuweichen. Doch dieser erfolgte nicht. Der Vampyr sank mit einem schmerzerfüllten Seufzen gegen die Tür, blieb eine Sekunde lang
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