Göttin der Rosen
Ihre Mikado-Rosen waren ein wahres Wunder.
Die äußeren Blütenblätter leuchteten in einem tiefen Scharlachrot, das schon mit Rubinen, mit Feuer und mit Blut verglichen worden war. Wenn die Knospen aufblühten, nahm das Rot einen zarten Goldton an, und der Blütenboden sah aus, als hätte sie ihn in ein Glas von erlesenem Sherry getaucht.
Schon fünf Jahre nacheinander hatte Mikki die Amateur-Kategorie der All-American Rose Selections Garden Show gewonnen. Die anderen freiwilligen Helfer in den Tulsa Rose Gardens scherzten gern, dass niemand sie schlagen konnte, weil sie ihre Rosen mit einem geheimen Zaubertrank goss, und jedes Jahr machten sie eine große Show daraus, sie um das Rezept anzuflehen.
Mikki nahm das Lob lächelnd entgegen – aber sie machte nie Witze darüber, dass sie einen geheimen Rosen-Zaubertrank besaß.
Jetzt stellte sie den Wassereimer und die kleine Werkzeugkiste, in der sie ihre Gärtnerutensilien aufbewahrte, auf dem Boden ab und widmete sich dem ersten Busch. Die Stirn gerunzelt, zupfte sie ein kleines Blatt ab, das für den ungeschulten Blick gesund aussah, aber in Mikkis erfahrenen Augen ein potentielles Problem darstellte.
»Mehltau«, murmelte sie voller Abscheu. »Ich wusste, dass die letzten Nächte für Oktober ungewöhnlich kühl waren, aber ich dachte, die warmen Temperaturen tagsüber würden das wieder ausgleichen.« Sie sprach mit dem Busch wie mit einem Kind und strich sanft über eine Blüte. »Es ist noch zu früh, um dich reinzubringen. Ich schätze, ich muss anfangen, dich über Nacht zuzudecken.«
Bei der Inspektion ihrer anderen Schützlinge fand sie zwar keine weiteren von Mehltau befallenen Blätter, nahm sich aber dennoch vor, vor dem Zubettgehen den Wetterbericht zu hören. Wenn die Temperatur unter fünf Grad sinken sollte, würde sie die Rosen abdecken.
Entschlossenen Schrittes ging sie zu ihrer Werkzeugkiste zurück, nahm eine mittelgroße Schere heraus und wandte sich dem Rosenbusch zu, der direkt an der Schiebetür zu ihrem Schlafzimmer stand. Mit geübten Fingern griff sie nach dem sattgrünen Stiel einer gerade erblühenden Knospe und durchtrennte ihn mit einem einzigen sauberen Schnitt. Dann hob sie die Blüte an ihre Nase und atmete tief ihren berauschenden Duft ein.
»Dich werde ich mir heute Abend ins Haar stecken«, flüsterte sie ihr zu.
Vorsichtig legte Mikki die Blüte neben ihrem Werkzeugkasten ab, dann verstaute sie die Schere wieder und suchte nach dem letzten Werkzeug, das sie heute Abend brauchen würde.
Sie fand das kleine Taschenmesser schnell. Ihr Werkzeugkasten war ihr vertraut und gut geordnet – nichts konnte sich darin lange vor ihr verbergen. Mikki klappte die Klinge heraus – sie war rasiermesserscharf geschliffen und glitzerte gefährlich im schwindenden Tageslicht. Systematisch zog sie die unterste Schublade auf, holte ein kleines Päckchen alkoholgetränkter Tücher heraus und desinfizierte erst ihre linke Handfläche, dann die bereits steril aussehende Klinge.
Bei der Arbeit mit Rosen kann man gar nicht vorsichtig genug sein, Mikado , hörte sie in Gedanken die vertraute Stimme ihrer Mutter. Warum sich eine Infektion einfangen, wenn es sich vermeiden lässt?
Als beide Oberflächen einwandfrei sauber waren, warf Mikki das Tuch weg und schaute sich schnell noch einmal um. Obwohl ihr Balkon an einer befahrenen Straße lag, verhinderten die hohe Lage des Apartments und das dichte Blattwerk ihrer Rosenbüsche, dass Passanten viel mehr als einen flüchtigen Blick auf sie erhaschen konnten. Doch am Abend vor Neumond wollte sie selbst das vermeiden.
Nichts regte sich, bis auf den leichten Wind.
Mikki streckte die linke Hand aus und betrachtete das Netz aus kleinen weißen Narben, das sich über ihre ganze Handfläche zog. Dann warf sie rasch einen Blick auf die rechte Hand. Ja, sie erinnerte sich richtig. Unter den kleinen hellen Linien befand sich eine frischere Narbe, die noch rosa war und ihr bestätigte, dass in diesem Monat die linke Hand herhalten musste.
Ohne länger zu zögern, drückte Mikki die scharfe Klinge auf ihre Handfläche und schnitt mit einer geübten, präzisen Bewegung in die zarte Haut.
Sofort quoll Blut hervor, und mit einem Mal erinnerte Mikki sich an Sevillanas Wunde. Zwar war der Schnitt um einiges tiefer und breiter gewesen, aber er hatte sich an genau derselben Stelle befunden. Und dann wurde ihr plötzlich bewusst, was sie in der Handfläche der alten Dame sonst noch gesehen hatte. Helle Narben
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