Göttin der Rosen
– schmal, gut verheilt und ihr, Mikki, nur allzu vertraut. Bei der Erkenntnis wurde ihr ganz schwindlig, und sie musste die Augen schließen, weil sich der Balkon um sie herum plötzlich zu drehen begann.
Wie konnte die alte Dame die gleichen Narben haben wie sie? Einzig und allein die Frauen aus ihrer Familie kannten dieses Ritual, und sie hatten es über all die Jahre nur im Geheimen durchgeführt. Seit ihre Mutter letztes Jahr gestorben war, hatte Mikki geglaubt, sie wäre die einzige Person auf der ganzen Welt, die das Geheimnis der Blutrosen kannte. Sie musste mehr über Sevillana erfahren. Gleich Montagmorgen würde sie sich ihre Patientenakte besorgen und ihre Adresse herausfinden. Sie musste die alte Dame unbedingt wiedersehen.
Als der Schwindel nachließ, machte Mikki die Augen wieder auf und erschrak, als sie sah, wie viel Blut sich bereits in ihrer Handfläche gesammelt hatte. Bevor es auf den Balkon tropfen konnte, steckte Mikki die Hand schnell in den bis oben gefüllten Wassereimer. Im ersten Moment brannte der Schnitt, aber bald wirkte das kühle Nass lindernd. Mikki bewegte ihre Hand durchs Wasser und sah zu, wie es sich rot färbte.
Nach ein paar Minuten zog sie die Hand zurück, schüttelte sie und wickelte sie in den Gazeverband, den sie aus der offenen Schublade ihres Werkzeugkastens zog. Sie wusste, dass die Wunde bald aufhören würde zu bluten und einen unauffälligen Schorf bilden würde, über den sie die nächsten paar Tage ein hautfarbenes Pflaster kleben konnte. Wenn die anderen freiwilligen Helfer in den Rose Gardens es bemerkten, würde Mikki die freundlichen Ermahnungen, beim Stutzen vorsichtiger zu sein und immer ihre Lederhandschuhe zu tragen, mit einem geduldigen Lächeln über sich ergehen lassen.
Aber so einen kleinen, belanglosen Schnitt merkte meist sowieso niemand.
Den Eimer in der unverletzten Hand, ging Mikki von einem Rosenbusch zum anderen und teilte das Wasser zwischen den fünf Pflanzen auf. Während sie die blutgetränkte Flüssigkeit langsam über die Wurzeln ihrer Schützlinge goss, flüsterte sie ihnen liebevolle Worte zu, pries ihre Schönheit und glaubte, den Effekt des Rituals auch sofort wahrzunehmen. Die kühle Brise strich durch die dichten Blätter, und die üppigen Rosen nickten mit den Köpfen, als wollten sie sagen: Ja , wir sind Teil von dir … Blut von deinem Blut …
Und in Mikkis Augen waren sie tatsächlich mehr als Pflanzen. Sie waren ihr Vermächtnis und das letzte Andenken an ihre Mutter und ihre Familie. Ohne ihre Rosen wäre sie ganz allein auf der Welt.
Als das Wasser aufgebraucht war, lächelte sie die schönen Pflanzen glücklich an.
»Jetzt würde ich so gern meinen Schaukelstuhl hierherstellen, mir ein Glas Rotwein einschenken und den Abend mit einem guten Buch verbringen.« Aber sie hatte ein Date, erinnerte sie sich, mit einem Mann, der eine nette Stimme und ein charmantes Lachen hatte. Erneut sah Mikki auf die Uhr; es war Viertel vor sieben! Und sie brauchte mindestens zehn Minuten zum Restaurant.
»Verdammt!«
Hastig trug Mikki den leeren Wassereimer und den Werkzeugkasten in ihre Wohnung. Sie würde alles aufräumen, wenn sie später nach Hause kam. Dann eilte sie ins Badezimmer und checkte noch ein letztes Mal ihr Make-up und ihre Frisur. Sie sah gut aus – der schwarze Lederrock gehörte zu ihren Lieblingen, und das Rostrot ihres Kaschmirpullovers brachte ihre Haare perfekt zur Geltung. Schnell legte sie sich noch eine lange, schwarze Perlenkette um den Hals und kramte in ihrer Schmuckschatulle, bis sie ein Paar passender Hängeohrringe gefunden hatte.
Im Hinausgehen schlang Mikki sich noch schnell einen Pullover um die Schultern und kämpfte gerade mit dem Reißverschluss ihrer schicken neuen Stiefel, als sie sich an die Rose erinnerte, die sie sich in die Haare stecken wollte. In ihrer Hektik hatte sie sie auf dem Balkon liegen lassen. Verärgert über ihre eigene Vergesslichkeit, holte sie die Blume, kürzte rasch ihren Stiel und benutzte den kleinen Dekorationsspiegel im Wohnzimmer, um die Blüte hinter dem linken Ohr in ihre dichten Locken zu stecken. Als ihr der liebliche Rosenduft in die Nase stieg, breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus. Welches Parfüm wäre passender für sie gewesen?
Ach, das erinnert mich …
Kurzentschlossen öffnete Mikki das Seitenfach ihrer Handtasche, in dem sich normalerweise nur Lippenstift, Kompaktpuder und ihre Schlüssel befanden. Das kleine Glasfläschchen lag zwischen all
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